Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete. Albrecht Gralle
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Читать онлайн книгу Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete - Albrecht Gralle страница 6
„Nehmen sie den Leib“, murmelte Luther, „Weib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fahren dahin. Sie haben’s kein Gewinn …“
„… das Reich muss uns doch bleiben“, fuhr der Pfarrer fort.
Luther blickte überrascht auf. „Du kennst den Gesang?“
„Oh ja, er ist auf der ganzen Welt bekannt!“
„Auf der ganzen Welt?“ Luther schüttelte verwundert den Kopf.
Andreas Sonnhüter erhob sich, Luther machte dasselbe. Bevor sie das Zimmer verließen, nahm Sonnhüter ein Stück Toilettenpapier, wischte den Lutherrotz vom Boden auf und warf das feuchte Papier in den Papierkorb.
„Hier bei uns spucken die Leute nicht auf den Boden“, meinte er. Dann gingen sie gemeinsam zur Pforte des Seniorenheims. Sonnhüter erzählte, dass er herausgefunden habe, wie der Mann heißt und dass er ihn zuerst mit sich nach Hause nehmen würde.
„Sollten wir nicht die Polizei …?“
Sonnhüter winkte ab. „Das ist ein harmloser Fall. Wenn es Schwierigkeiten gibt, rufe ich natürlich dort an, aber ich denke, wir klären das unbürokratisch ab.“
Luther zog Sonnhüter an seinem Ärmel und sagte laut und deutlich: „Man hat mir g’sagt, dass der Zwingli und der Calvin hier sein und auf mich warten. Ist ein ziemlich groß Sach, dass ich die beiden hier treffen mag.“
Die Frau an der Pforte grinste: „Ja, das hat vorhin die Nachbarin, Frau Brückner, gesagt, die ihn gebracht hat. Ein Scherz.“
„Komm, Martin, das war ein Versehen, ein Scherz …“
„Ein Scherz? Das wär schad. Ich hätt gern dem Calvin sein Abendmahl um die Ohren g’schlagen. Hatt er doch g’redet, dass es nur bloße Zeichen sein und der Leib Christi so weit entfernt sei vom Brot als der höchste Himmel von der Erden …“
„Luther, der Calvin ist nicht hier. Die Frau hat es nicht so gemeint.“
„Ja, ja, ich versteh gut“, nickte Luther. „Alls Lug und Trug.“
Und damit verließen die beiden Herren die Seniorenresidenz. Luther fuhr nun in einer dieser flachen Kutschen ohne Pferde und klammerte sich am Sitz fest, als das Auto mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit von sechzig Stundenkilometern über die Landstraße „raste“. Nach einem heißen Bad und neuen seltsamen Kleidern, die auf der Haut kratzten, ließ sich der Zeitreisende Bohnen, Brot und ein Steak schmecken, was unter anderem dazu führte, dass er nach dem Essen laut rülpste.
4
24. 6. 2017
Habe einen Mann getroffen, der sich Martin Luther nennt und auch das so genannte Lutherdeutsch spricht. Zuerst habe ich an einen Scherz oder an eine geistige Verwirrung gedacht, aber als ich den kleinen, dicken Mann auf Latein und Hebräisch anredete, antwortete er mir spontan. Dann erzählte er mir seine Geschichte, und ich kann mir nicht helfen – es klang überzeugend. Er muss durch einen Blitzstrahl in unsere Zeit geschleudert worden sein. So kommt es mir jedenfalls vor. Oder das ist jemand, der ein großes schauspielerisches Talent besitzt. Ich werde meinen Schwager anrufen. Er hat Physik studiert.
Jedenfalls: Luther oder der Mann, der behauptet oder denkt, dass er Luther ist, hat Vertrauen zu mir gefasst. Und ich werde mit ihm durch Deutschland reisen und ihm einiges zeigen. Zum Glück lebe ich im Ruhestand. Ich habe also Zeit und kann nur hoffen, dass ich keinem Betrüger aufgesessen bin.
Ich werde ihm Erich Kästner zu lesen geben, damit er in unsere Sprache hineinfindet. Das ist einigermaßen verständlich, hoffe ich, und nicht zu kompliziert.
Meine Güte! Martin Luther persönlich! Ich werde ihn auf jeden Fall immer wieder testen. So richtig überzeugt bin ich immer noch nicht ganz. Wie stark kann ein Mensch sich etwas einbilden? Vielleicht ist der Mann ja auch ein Lutherspezialist, der durchgedreht ist und denkt, er sei selbst Luther? Wie auch immer – ich spiele das Spiel zuerst einmal mit. Zunächst, denke ich, muss ich ihn mit unserer Welt bekannt machen. Vor allem mit unseren technischen Geräten! Und aufpassen werde ich, dass er keine Nägel in die Steckdosen steckt. Wie bei einem Dreijährigen! Zum Glück leben wir hier nicht in der Großstadt. Einige unserer Fachwerkhäuser in der Innenstadt sind noch aus Luthers Zeiten! Unsere Stadtmauer stammt sogar aus dem 12. Jahrhundert.
Natürlich werde ich ihn als Sondergast für den Pfarrkonvent in Wittenberg vorschlagen. Ich werde ihnen sagen, dass ich einen Schauspieler gefunden habe, der sich hervorragend in die Lutherrolle eingelebt hat. Vielleicht wäre das sogar etwas für die Jubiläumsveranstaltung, zu der ich eingeladen wurde.
Toll, dass der obere Saal im Lutherhaus für den Abschluss zur Verfügung steht. Da kann er in seinem eigenen Haus reden.
Was wird er überhaupt mit den Juden anfangen, wenn ich ihn nach Göttingen zu dem jüdischen Lehrhaus mitnehme? Vielleicht zu riskant. Seine antisemitischen Äußerungen sind ja sehr drastisch. Aber egal, ob es nun der echte Luther ist oder nicht. Der Mann ist überzeugend und hat wirklich Ahnung, spricht flüssig Latein und macht sich Gedanken zur Übersetzung des Buches Genesis. Egal, ob er echt ist oder nicht … Zeit mit ihm zu verbringen, wird in jedem Fall eine Abwechslung sein.
Er hat mir gesagt, er sei im Juni 1545 in unsere Zeit versetzt worden. Ich habe nachgeschlagen und festgestellt, dass er im Februar 1546 sterben wird. Aber das darf er nie erfahren. Selbst wenn er den Luther nur spielt und sich mit ihm stark identifiziert, könnte er in eine Krise geraten, wenn er liest, dass er demnächst sterben wird. Ich muss meine Lexika vor ihm verstecken. Wenn er aber 1546 stirbt, dann wird er ja wieder in seine Zeit zurückfinden. Immerhin ein Trost für ihn.
Meine Güte – jetzt gehe ich auch schon davon aus, dass es der echte Luther ist!!!
Auf jeden Fall muss ich anderen gegenüber vorsichtig sein und so tun, als sei er ein Schauspieler. Die Zeitreise glaubt mir ja sowieso niemand.
Ob er merkt, dass ich gar nicht an Gott glaube? Ich werde es ihm jedenfalls nicht auf die Nase binden!
5
„Ja? Bergmann?“
„Hallo Gert. Ich bin’s – Andreas, dein Schwager.“
„Ja, du stehst auf meinem Display.“
„Hast du gerade fünf Minuten Zeit?“
„Sogar zehn Minuten.“
„Wunderbar. Hör mal, ich beschäftige mich gerade mit Zeitreisen. Hab einen Film gesehen, und weil du ja mal Physik studiert hast …“
Bergmann lachte: „Du interessierst dich für Physik? Ich dachte, alte Sprachen seien dein Hobby …“
„Nicht nur. Ich hab schon als Jugendlicher Science-Fiction-Romane gelesen!“
„So? Welche