Schritt für Schritt. Herbjørg Wassmo
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Читать онлайн книгу Schritt für Schritt - Herbjørg Wassmo страница 4
Am letzten Tag haben sie nichts mehr zu essen, nur ein wenig Haferflocken und einige Suppenwürfel. Das Zelt ist nass. Die Schlafsäcke sind nass, obwohl der Vater um den Schlafplatz Sickergruben anlegt, mit einem kleinen Spaten, den er bei der Heimwehr gestohlen hat.
Am fünften Tag brennt die Sonne und der Vater orientiert sich nach Karte und Kompass, er winkt und ruft wie ein Heerführer. Hänge hinab, Anhöhen hinauf. Durch Gestrüpp und Gesträuch durch Heide und Flüsse. Er ist siegessicher und sagt die ganze Zeit, jetzt seien es nur noch dreißig Kilometer oder so.
Sie fühlt sich total erschöpft und denkt, das sei, weil sie ihre Regel haben müsste, die nicht mehr kommt. Die Mutter dagegen blutet heftig. Aus dem Unterleib, aus den Blasen und aus Schrammen an beiden Ellbogen. Die Schwester hat Pflaster auf beiden Knien. Der Vater hat alle Mückenstiche abbekommen. Sein ganzes Gesicht ist geschwollen. Als er klagt, murmelt sie halblaut, das stehe ihm gut. Die Mutter hört sie und wirft ihr einen mahnenden Blick zu.
Die kleine Schwester hat gelernt, dass Quengeln nichts bringt, aber an den feuchtesten und kältesten Stellen macht sie doch einen Versuch. Die Mutter trägt sie einige Schritte, dann setzen sie sich hin, ein Stück von den anderen entfernt. Die Schwester weint leise und putzt sich die Nase mit den kastanienbraunen Korkenzieherlocken. Die Mutter drückt sie an sich, drückt sie an sich. Bis sie nicht mehr weinen kann und aus der Umarmung schlüpft.
Sie haben die nassen Sachen zum Trocknen über die Rucksäcke gehängt und setzen in der Unendlichkeit einen Fuß vor den anderen. Nicht einmal er sagt noch etwas. Aber er atmet. Atmet und atmet und geht mit schweren Schritten weiter.
Der Vater steht der Welt immer im Weg. Und den Menschen, denen sie begegnet. Den Geschehnissen. Der Vater ist ein Schatten, den sie immer wegzuwischen versucht, aber das geht nicht. Sie weiß ja, dass es nicht geht. Er hat die Macht, in ihre Träume einzubrechen, so dass sie mitten in der Nacht plötzlich irgendwo im Zimmer steht. Er sendet stinkende Abscheu quer durch alles hindurch. Selbst wenn sie in der Kirche sitzt, ist sein Schatten überall, in allen Winkeln.
Wenn er jetzt umfällt, tot, müssen wir ihn liegen lassen. Ich brauchte ihn dann nie wiederzusehen, denkt sie. Dann kommen Raben und Füchse und freuen sich über diese Mahlzeit. Und nach ihnen Mäuse und kleine Nagetiere. Die ganze Zeit Mücken aller Art und Schmeißfliegen. Die ganze Zeit. Am Ende liegt sein Gerippe weiß und poliert im Sonnenlicht. Und alles ist geläutert und aus der Welt, denkt sie. Ich will auch geläutert sein, aber in der Welt.
Und ohne es verhindern zu können, hat sie ein Stoßgebet zu Gott dem Herrn gesandt: Hol ihn weg! Jetzt! Bitte!
Als ihr dieser Gedanke bewusst wird, ist ihr klar, wie schlecht sie ist. Wie unendlich schlecht sie ist. Dennoch kann sie nicht bereuen. Sie hakt die Daumen in die Rucksackträger, um ihre Blasen zu schonen, und zwingt sich, an die einzigartige Beschaffenheit des Bösen zu denken. Das die Macht besitzt, sie am Leben zu erhalten. Ohne dieses Böse wäre sie schon längst verschwunden.
Als sie endlich bei Menschen ankommen, einer kleinen roten Hütte, wo aus dem Schornstein Rauch aufsteigt, glaubt sie nicht, dass es die Wirklichkeit ist, sondern etwas, das sie sich nur einbildet. Ein kleines Märchenhaus im Schutz hoher Kiefern, umgeben von Hagebutten. Man kann damit rechnen, dass die Hexe herauskommt, um sie zu fangen und zum Abendbrot zuzubereiten.
Sie glaubt, die anderen vorgehen zu lassen, um ein wenig allein zu sein. Aber die Knie geben unter ihr nach. Und als Letztes nimmt sie den frischen Geruch von Sauerampfer wahr. Dann füllt sich ihr Mund und alles verschwindet.
Sie erwacht zur Geschichte ihres Vaters, wie sie sich im Nebel verirrt haben und wie er dennoch mit Hilfe von Karte und Kompass die Richtung gefunden hat. Die Wörter strömen aus der Übelkeit. Die Erleichterung, Menschen erreicht zu haben, wird einsam wie ein Moor im wilden Gebirge.
Später erinnert sie sich an den Geruch der Hagebuttensuppe und an den Klang der nordschwedischen Sprache.
Alles kommt an den Tag
Sie muss sie glauben machen, sie habe ihren Spaß, sie dürfen die Wahrheit nicht entdecken. Sie hört selbst, dass ihr Lachen so schrill ist wie eine ungeölte Fahrradbremse an einem steilen Hang. Aber sie bringt die anderen zum Lachen. Laut.
Die Mutter freut sich, wenn sie Freundinnen zu Besuch hat, und ist immer nett. Alle essen Brote und trinken Kakao. Die Mädchen aus der Schule und sie. Tanzen in dem großen leeren Wohnzimmer im Erdgeschoss, denn das ist im Moment unbewohnt. Sie haben einen Plattenspieler mitgebracht. Sie hören Tango, Walzer und Rock. Vor allem Rock. Sie kann sich nicht daran erinnern, wie die Stücke heißen oder wer singt. Mit einer Ausnahme. Elvis. »Blue Suede Shoes«. Ihr ist schon schlecht, noch ehe sie anfangen, und ab und zu fällt sie. Nicht nur beim Tanzen.
Setz dich, sagt die Mutter mit sanfter Stimme.
Die Schwester ist schlafen gegangen und sie sind allein.
Du hast überall zugenommen, fügt die Mutter hinzu. Sie hat es gesehen. Verstanden. Mit dem Elektrikerlehrling hat es nicht nur Rock ’n’ Roll und Tanz gegeben.
Dann kommt es an den Tag, wie man sagt. Alles kommt an den Tag. Der einzige Vorwurf, den die Mutter ihr macht, ist, dass sie so unvernünftig war, durch die Berge zu gehen, ohne etwas zu sagen.
Wusst ich doch nich, glaubt ich doch nich, konnt ich doch nich glauben, behauptet sie mit brüchiger Stimme, ehe sie zusammenbricht.
Zuerst ist es still. Entsetzlich still. Man kann sich vorstellen, dass mehrere Tage vergehen, ehe die Mutter endlich etwas sagt.
Aber sie kann hören, dass sogar die Mutter ihre Zweifel hat.
Der große runde Ofen im Wohnzimmer ist kalt. Mit seinen eisernen Rändern und Figuren reicht er fast bis an die Decke. Die Mutter hat ihn soeben geschwärzt und sich die Hände gewaschen. Jetzt reicht sie ihr ein Handtuch, damit sie sich die Nase putzen kann. Schwarze Farbe und Lappen liegen in einem Pappkarton neben dem Kokskasten.
Machst du den Dreck für mich weg? Dann koch ich jetzt, sagt die Mutter und steht auf.
Sie hat die Schande im Bauch. Wenn sie keine Lösung findet, kann sie nur noch sterben. Alles eilt, aber sie begreift nicht, was sie tun soll. Das Leben zerfällt jetzt in Monate. Nur noch siebeneinhalb Monate übrig. Sie lacht laut, egal mit wem, und bereitet sich vor. Ab und zu geht sie zu der hohen Brücke über dem Fluss. Tief unten gibt es Steine und dunkles Wasser. Es dauert nicht viele Sekunden. Das weiß sie ja.
Der Elektrikerlehrling kommt und will sich mit ihr verloben. Sie stehen im Treppenhaus und er ist plötzlich ein Fremder, ohne dass sie weiß, wie das passiert ist. Sie muss es ihm offen sagen, sie kann sich nicht verloben.
Warum nicht, will er wissen.
Sie kann keinen vernünftigen Grund finden und schüttelt nur den Kopf.
Er nimmt ihre Hand und sagt, es sei in Ordnung, dann geht er. Am Hang zur Straße dreht er sich noch einmal um und lächelt.
Am Tag darauf kommt seine Mutter und sagt, sie müssten heiraten. Das sei nur recht und billig, sagt seine hübsche kleine Mutter.
Sie ist zu Besuch bei ihnen gewesen und hat Eintopf gegessen. Es hat die ganze Zeit geregnet und sie saßen im Haus und spielten Karten. Seine Mutter lächelte ununterbrochen und ließ die