Schritt für Schritt. Herbjørg Wassmo

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Schritt für Schritt - Herbjørg Wassmo

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eine Erleichterung, dass sie genau das sagt, was sie selbst gedacht hat.

      Und dann bleiben sie einfach so sitzen, in tiefem Gespräch über alles, was sie weder der Mutter noch jemand anderem erzählen kann. Fast jeden Tag, den ganzen August über, bis sie dann zum Gymnasium fahren muss, sitzen sie so da.

      Damit niemand glaubt, sie verschwende ihre Zeit, hat sie immer ein Buch vor sich liegen. Wenn sie aus Versehen etwas laut sagt oder gestikuliert, können die anderen einfach glauben, sie versuche, den Lehrstoff auswendig zu lernen.

      Der Preis des Wissens

      Die unverheiratete Tante des Vaters passt auf den Jungen auf. Die Mutter und sie nehmen Bus und Fähre in die kleine Stadt, die nach Fisch riecht und über der mehr Möwen fliegen, als irgendwer glauben kann. Sie muss allein zum Büro des Rektors gehen. Aber das muss sie eben hinter sich bringen.

      Der Rektor ist ein großer Mann mit breiten Schultern, immer beugt er sich ein wenig vor, als habe er beschlossen, dass der Kopf vor dem Körper kommen muss. Erst geht er hinter einem Schreibtisch mit Papieren in den Händen immer hin und her. Er hat lange knochige Finger und sieht bedrohlich aus. Sie schwitzt. Am Ende setzt er sich und liest ihre Noten laut vor, als ob sie nicht wüsste, was da steht. Die schlechten prallen von den Wänden ab wie hässliche Echos aus dem Totenreich.

      Nuuun, nuuun, sagt er langsam und mustert sie bedrohlich. Es gibt hier Möglichkeiten, natürlich. In Norwegisch zum Beispiel. Nicht schlecht, nicht schlecht … Aber eine Mathematikerin wird wohl nicht aus dir. Was meinst du selbst? Fast hätte sie ihre Zunge verschluckt, als wäre das die einzige Möglichkeit, nichts sagen zu müssen.

      Was meinst du selbst, fragt er noch einmal und lächelt plötzlich, wie um sie zu schockieren.

      Ich sollte wohl eher auf Lesen und Schreiben setzen, murmelt sie atemlos.

      Vernünftig! Dann bist du an dieser Schule angenommen, sagt er fast wütend, während er von einem Ohr zum anderen lächelt.

      Sie hat Angst vor ihm, fühlt sich aber erst einmal sicher, dass sie einen Menschen mit Macht auf ihrer Seite hat.

      Es fängt so licht an. Leicht. Als ob sie sich selbst mit Pastellkreide in die Welt zeichnen könnte. Das Mädchen, das mit ihr befreundet sein will. Die vielen kleinen Freuden. Die alten Schuhe so blank putzen, dass sie ganz neu aussehen. Sich Schulbücher besorgen. In der duftenden Bäckerei ein halbes Brot kaufen. In das Klassenzimmer gehen, das nach Kreide, Staub und grüner Seife riecht. Sich an ihren Tisch setzen und wieder ein Teil von etwas sein. Mit den anderen in der Klasse über alles Mögliche reden.

      Vor allem aber hören, dass jemand lacht.

      Der Vater ist nicht da.

      Aber ihr Junge auch nicht.

      Schon als sie das erste Mal den Fjord überquert, nachdem sie bei den Eltern gewesen ist, nagt etwas an ihrem Gehirn. Es führt sich auf wie bleischwere Insekten. Sie hat da drinnen einen riesigen Schwarm. Der surrt. Sogar nachts. Vor allem nachts.

      Sie hat ein Zimmer gleich beim Friedhof. Zwei große Fenster und rot angestrichene Möbel. Klo und Waschbecken in einem Verschlag auf dem Gang, den sie mit den Vermietern teilt. Das Badezimmer ist im Keller, aber sie darf es benutzen, wenn sie vorher fragt. Sie darf nicht vergessen, die Zahnpastareste aus dem Waschbecken zu wischen, sonst grämt sich die Vermieterin.

      Die Vermieterin hat ein Ekzem. Sie redet darüber und kratzt sich. Ein Teil der Einsamkeit der Vermieterin scheint vom Ekzem herzurühren. Sie ist freundlich und lädt zum Essen ein. Dabei kommt heraus, dass sie ihr Zimmer ihrem Nähkränzchen zeigt, wenn sie nicht da ist, um zu beweisen, wie schön es da ist. Auch die Schubladen. Schöne Unterwäsche, sagt sie. Das hast du natürlich zu Hause so gelernt, sagt die Vermieterin.

      Sie verschluckt sich an der Suppe und schnappt nach Luft. Auf irgendeine Weise ist es ihre Schuld, dass die Frau in ihren Schubladen kramt. Dann muss sie erklären, was die anderen gesehen haben. Sie erklärt, dass die Mutter als Vertreterin für eine dänische Unterwäschefirma arbeitet. Die Vermieterin schlägt die Hände zusammen und fragt immer weiter, als wäre das eine Neuigkeit, die in der Zeitung gestanden hat.

      Die Mutter hat die Maße für selbstgenähte Unterwäsche genommen, sagt sie. Man findet alles, was man an Haken, Spitzen, Stäbchen und Gummis will, in Katalogen. Die Mutter war zum Anlernen in Kopenhagen. Ab und zu reist sie umher und nimmt Maß an Frauen, die sie zu sich bestellt haben. In ihren Katalogen sehen die Frauen aus wie Engel, fügt sie hinzu, auch wenn sie weiß, dass sich das nach Prahlerei anhören kann.

      Ja, da ist es ja kein Wunder, dass die Frauen in meinem Nähkränzchen finden, dass du schöne Unterwäsche hast, sagt die Vermieterin und lächelt sie über die Fleischsuppe hinweg an. Sie hat graue Locken und schöne Augen. Ihr Mann ist auch nett, sagt aber nicht viel.

      Wie kann man um einen Zimmerschlüssel bitten, wenn man so freundliche Vermieter hat?

      Dennoch tut sie es eines Tages. Es hat noch nie einen Schlüssel für dieses Zimmer gegeben, ist die Antwort. Aber es spielt doch sicher keine Rolle, nachts schließen sie ja die Haustür ab. Sie hat doch einen Haustürschlüssel bekommen, nicht wahr? Das hat sie. Im Grunde ist ja auch alles recht und billig, denn die Vermieter schließen ihre Zimmertüren ja auch nicht ab. Und der Vater ist nicht da.

      Sie hat ihr Notizbuch immer bei sich. Sie kann sich ja nicht mehr einbilden, es sei unter ihren Unterhosen gut aufgehoben. Aber das ist egal, ihre Schultasche ist voll schwerer Bücher, was macht ein kleines Notizbuch da für einen Unterschied?

      Es ist nicht möglich, ihr eigenes Leben zu zeichnen, auch wenn sie den Vater nicht sehen muss. Sie fühlt sich wohl in der Schule, ist aber eine Fremde. Ein Landei. Weiß nicht, was modern ist. In der kleinen Stadt ist es wichtig, modern zu sein. Die Kinder aus den großen Kaufmannsfamilien entscheiden darüber. Glaubt sie.

      Der Herbstball rückt näher und sie bittet die Mutter, das weiße Konfirmationskleid zu kürzen und knallgelb zu färben. Sie probiert es in ihrem Zimmer an und findet es sehr schön.

      Als sie auf den Ball kommt und die anderen sieht, die Modernen, ist ihr klar, dass ihr Kleid einfach hoffnungslos ist. Die neue Freundin mustert sie skeptisch, ohne etwas zu sagen. Trotzdem tanzen einige mit ihr. Sogar aus der Parallelklasse.

      Ach, so sieht also dein Prinzessinnenkleid aus, sagt einer.

      Du hast so schöne Haare, sagt ein anderer.

      Diese Bemerkung rührt sie dermaßen, dass sie schlucken muss.

      Einer sagt, ihre Rede an die Lehrer sei hervorragend gewesen. Sie erinnert sich beschämt daran, wie sie steckenblieb und den Faden verlor, weil sie einen Abschnitt in ihrem Manuskript übersprungen hatte. Sie begreift noch immer nicht, wie sie sich dazu bereit erklären konnte, diese Rede zu halten. Überhaupt begreift sie nicht, warum sie immer wieder tut, was sie nicht kann oder wagt. Das ist doch irgendwie krank!

      Sie geht, lange bevor der Ball zu Ende ist.

      Am Montag danach nimmt sie alles Essensgeld für den ganzen Monat und kauft sich einen orangefarbenen Mohairrock und einen kupferfarbenen Gürtel. Aber es ist natürlich zu spät. So schmal sie ihre Taille auch zu machen versucht, der Ball ist vorüber. Sie isst belegte Brote, während das bleischwere Ungeziefer in ihrem Kopf herumnagt. Versucht, es an den Kieswegen, im Birkengestrüpp und an den Grashängen auszulüften, die zu den Felskuppen hochführen. Aber alles wird zu einem widerlichen Sirup aus Broten, Rotz und verschwommenen Bildern von Inseln, Booten und grauem Meer.

      Alleinsein

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