Schritt für Schritt. Herbjørg Wassmo
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Wennde nix isst und krank wirs, wird alles für mich auch noch schlimmer, kapierste das nich?
Zum ersten Mal erwähnt sie, dass ihr Leben nicht gut ist. Aber sie kocht Bouillon und die trinken sie zusammen, am Küchentisch. Danach isst sie eine halbe Schnitte Brot mit Himbeermarmelade, während die Mutter ihr schweigend zusieht.
Von nun an beobachtet sie ihre Mutter, um zu wissen, wie schlecht es der geht. Je bleicher und erschöpfter die Mutter aussieht, umso mehr versucht sie zu essen. Aber es kommt wieder hoch.
Die Schande will nicht zwangsernährt werden.
Zwei Lehrer kommen zu ihr nach Hause, um ihr beim Lernen zu helfen. Die Mutter hat sie darum angefleht. Die Schule hat keine Examensberechtigung, deshalb müssen alle privat zum Examen antreten. In dieser Hinsicht ist sie nicht die Einzige. Sie lernt und löst Aufgaben, obwohl sie weiß, dass sie vor dem Examen sterben wird. Schon im Januar wird sie sterben. Und das Examen findet erst im Mai und Juni statt.
Die Mutter geht zu der alten Hebamme, die die nächste Nachbarin ist, und bittet sie, nach ihr zu sehen. Vielleicht kann sie das Kind holen, wenn es so weit ist, dann braucht sie, so jung, wie sie ist, nicht in der Ferne im Krankenhaus unter Fremden zu liegen.
Die alte Hebamme sieht nach ihr und tastet sie ab. Verspricht nichts, sagt aber auch nicht nein.
Es ist doch klar, wenn das Mädchen einen Blutsturz erleidet oder das Kind falsch liegt, krieg ich die Schuld, ich altes Weib, sagt die Hebamme und seufzt.
Aber sie scheint keine besondere Angst zu haben und schließt mit einer Mahnung. Eine Schwangere muss ordentlich essen, sonst geht es schief, droht sie.
Der Bauch wächst, auch wenn sie nur ab und zu ein Brot hinunterbringt. Sie geht nicht mehr aus dem Haus. Sie liest nur noch. Liest und liest. Vor allem für die Schule. Aber sie scheint ein Loch im Kopf zu haben, denn alles, was sie abends zu wissen glaubte, ist verschwunden, wenn sie aufwacht. Die Nacht hat es durch Ohren, Nase und Augen entweichen lassen. Sie ist undicht wie ein Sieb und ihr Bauch wächst.
Die kleine Schwester begreift nicht, dass es eine solche Schande ist, dass sie ein Kind erwartet. Sie will lernen, dafür etwas zu stricken, sagt sie. Die Mutter sagt, es sei kein das, sondern ein Mensch.
Sie suchen hellgrüne Wolle heraus und fangen an. Sie fängt die Maschen auf, die die Schwester immer wieder fallen lässt. Es geht langsam. Wenn die Schwester schläft, strickt sie ein wenig weiter, um ihr zu helfen. Das ist das Mindeste, was sie tun kann.
Wem wird das Kind wohl ähnlich sehen?, fragt die Schwester munter.
Sie sagt, sie hoffe, es werde ihr ähnlich sehen, sie sei doch die Tante.
Die Schwester kostet das Wort »Tante« aus und fragt, warum sie das glaubt. Weil ich noch nie so ’n schönes Kind gesehen hab wie dich, antwortet sie ernst.
Die Kleine nickt energisch und lächelt zufrieden.
Die Mutter kommt mit einem Buch aus der Bücherei. Es geht um einen Embryo im Bauch einer Frau, die ohne einen einzigen Blutfleck in zwei Teile zerschnitten worden ist. Es ist natürlich nur eine Zeichnung. Man sieht alles darinnen. Einige Bilder zeigen, wie das Kind herauskommt. Total unnatürlich und nicht zu fassen. Sie will es gar nicht sehen. Aber das muss sie. Blättert im Buch und fühlt sich elend. Jetzt weiß sie, wie Menschen zumute ist, die in einem Berg gefangen sind. Schlimmer. Sie hat einen Berg, der ihren Körper verlassen muss.
Wieder weiß die Mutter, was sie denkt, und erzählt, dass sie und die Großmutter leichte Geburten hatten und dass sie vermutlich auf die beiden kommen wird. Sie nickt verängstigt.
Ich bin ja da, wenn es passiert. Und die alte Hebamme auch, sagt die Mutter.
Dann sitzen sie eine Weile da und haben nichts mehr zu sagen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass es kein Unglück ist, sondern ein Mensch, der uns wichtig ist, sagt endlich die Mutter mit blanken Augen.
Ihr geht auf, dass die Mutter noch nicht vor ihren Augen geweint hat. Sie senken den Kopf und weinen ein bisschen zusammen. Von Schluchzen kann nicht die Rede sein. Es ist eher ein Schnaufen, zum Beweis dafür, dass sie einander verstehen. Die Mutter bringt das Buch mit der halben Frau und dem Embryo im Bauch weg, damit es nicht nass wird. Es gehört doch der Bücherei und nicht ihnen.
Die alte Hebamme, die eigentlich schon in Rente ist, trägt eine große weiße Schürze und redet mit ruhiger Stimme, während sie hinter ihrer Brille die Augen zusammenkneift. Atmen!, sagt sie. Zwischen den Wehen erzählt sie von dem letzten Kind, das sie in diesem Zimmer geholt hat. Vor vielen, vielen Jahren.
Das ’s jetzt schon ’n erwachsener Mann. Das war das Kind von der armen Marie, die ist jetzt mit allem allein. Der selber saß zum Schreiben da draußen im Pavillon und durfte nicht gestört werden. Der war kein erwachsener Mann, der Kerl, egal, wie berühmt er war. Es ging nicht darum, dass er unbedingt schreiben musste, der konnte einfach kein Blut sehn! So sind die Männer oft, verstehst du. Ich kenn einen Bauern in Nordbygda, aber ich sag keinen Namen, der kann seine eigenen Lämmer nicht holen. Männer … jagen und schlachten, Krieg führen und morden, aber kein Blut sehn können, wenn’s ernst wird. Das verstehe, wer will! Sie hat furchtbar kämpfen müssen, die Marie, aber wir konnten das Kind doch rausholen, sie und ich zusammen. Das war eine liebe Frau! Ihm hat der Ruhm ja nicht gutgetan, das kann ich dir sagen. Dachte, er wär was anderes als andere. Das ist das Problem von diesen Burschen, die glauben, der Herrgott hätte sie erhöht. Aber dem Herrgott ist das alles egal, das kann ich dir sagen, mein Kind. Du und dein Kleines, ihr seid genauso viel wert wie der Dichter!
Sie denkt nicht darüber nach, was sie wert ist. Hat genug damit zu tun, in Stücke gerissen zu werden, in Fetzen, mit Gerippe und Muskeln und allem anderen. Zwischen den Wehen denkt sie, das hier sei schlimmer, als von einer Brücke zu springen. Sie hat nicht einmal Zeit, sich zu fürchten. Sie will es nur hinter sich bringen. Die ganze Zeit war klar, dass sie in ihrem eigenen Blut im Bett der Mutter sterben würde, während die Hebamme über die Schlafzimmermöbel des Dichters plappert, in denen die Entbindung leichter ging. Höhere Betten, aber natürlich nicht so modern.
Einmalig schöne Farbe ham die Möbel hier, sagt die Hebamme beifällig, als die Mutter saubere Laken bringt. Jetzt nicht einschlafen, das Kind muss satt werden, du musst mithelfen.
Nur mit dem Nachthemd bekleidet vor einem großen offenen Fenster. Der Himmel ist voller stechender Sterne. Die zielen auf sie. Unter ihr bewegen sich Menschen. Einige drohen mit den Fäusten und rufen etwas, das sie nicht hören will. Sie haben keine Gesichter. Dennoch kann sie verstehen. Die Verachtung dieser Menschen füllt alle Hohlräume und fängt an, sie von innen her zu zerfressen. Ihr das schweißnasse Nachthemd vom Leib zu reißen. An ihren Sehnen zu zerren. Einen Knochen nach dem anderen zu brechen. Ihre Hüften werden losgerissen. Die Kiefer. Steht sie trotzdem aufrecht? Nein, sie hängt. Hängt mit dem Kopf nach unten. Dann merkt sie, dass auch der Dichter dort hängt. Er ist immerhin bekleidet, seine Weste ist zugeknöpft. Aber er zappelt und will zu ihr. Das Nachthemd fällt über sie, über Waden und Schenkel. Über den Bauch. Dann ist sie nackt. In Eis gehüllt. Plötzlich spricht der Dichter, wie sie ihn im Radio gehört hat, mit schnarrender Stimme, gebieterisch.
Sei ganz ruhig und denk deine Gedanken fertig, dann geht es vorbei, sagt er. Sie haben gut reden, möchte sie antworten. Aber das schafft sie nicht. Schmerz hat