Schritt für Schritt. Herbjørg Wassmo
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Du hast doch diese schrecklichen Norwegischaufsätze geschafft, sagt die Freundin.
Das stimmt. Aber ab und zu kommt sie sich richtig zurückgeblieben vor. Was sie vor dem Realschulexamen gebüffelt hat, ist verschwunden. Spurlos. Ihr Kopf ist ein grobmaschiges Sieb. Außerdem macht es ihr Sorgen, dass sie durch und durch unmodern ist, ohne Übung darin, sich in einer modernen Gesellschaft zu bewegen. Wenn es regnet, zieht sie Gummistiefel an. Das hat sie immer so gemacht. Die Freundin sagt, sie sehe aus wie eine Fischersfrau oder eine Lappin. Natürlich hat sie recht. Also kauft sie sich für ihr Essensgeld Lederstiefel und ein Twinset. Das haben alle. Es ist aus reiner Wolle und kratzt, und es hilft ihr nicht weiter bei dem Versuch, die Mathematik zu durchschauen.
In gewisser Weise gibt es ihr ein Gefühl der Geborgenheit, so nah beim Friedhof zu wohnen. Manchmal gehen andere hin und zünden auf den Gräbern Lichter an. Eines Abends nimmt sie ein Licht mit und tut so, als hätte sie Bekannte, die dort liegen. Sie sucht sich ein Grab mit verschneitem Grabstein und unleserlicher Inschrift aus. Kniet nieder und weint ein wenig. Friert dann auch im Gesicht. Am Ende ist ihr so kalt, dass ihr klar wird, dass es immer schon Menschen gegeben hat, denen es schlechter ging als ihr. Sie darf immerhin zur Schule gehen. Das dürfen nicht alle, die dermaßen in Schande geraten sind wie sie. Es ist wirklich ein Trost, den Friedhof aufsuchen zu können. Der Weg ist kurz. Nicht zuletzt, wenn sie danach wieder in ihr Zimmer will. Dort ist es warm, auch wenn der Wind die Vorhänge bläht wie Segel, wenn er weht.
Die Vermieterin hat sie gebeten, den Heizkörper abzudrehen, wenn sie in die Schule geht. Zuerst gibt sie vor, das zu vergessen, aber dann entdeckt sie, dass die Vermieterin es auf jeden Fall erledigt. Es ist wie die Sache mit dem Schlüssel – wenn man nichts ändern kann, gewöhnt man sich lieber gleich daran. Es wird ja ziemlich schnell warm, wenn sie den Heizkörper voll aufdreht.
Samstags nimmt sie nach der Schule zumeist die Fähre über den Fjord, um ihren kleinen Sohn zu besuchen. Bei jedem Wetter. Sie hat Angst, dass er sie vielleicht nicht wiedererkennt. Aber jedes Mal lacht er und streckt die Arme nach ihr aus. Ein glühender kleiner Stein mit dunklen Locken. Wenn sie nicht bei ihm ist, ist er ein Teil der Einsamkeit, aber auch ein Trost.
Die Fährfahrt ist Strafe und Medizin zugleich. Vor allem die Rückfahrt am Sonntagabend. Das Wetter wird von Samstag auf Sonntag selten besser. Eher ist das Gegenteil der Fall. Schon im Hafen wird ihr schlecht. Aber man gewöhnt sich an fast alles, und sie muss zurück.
Montags reden die anderen in der Klasse darüber, was sie am Wochenende gemacht haben. Über die Feste. Sie hört zu. Es ist keine schlechte Eigenschaft, zuhören zu können, denkt sie.
Vor dem Weihnachtsexamen zündet sie abends auf dem Friedhof ein Licht an, geht danach zurück in ihr Zimmer und arbeitet nachts weiter. Dann gehört das Haus nur ihr. Die Vermieter sind nie besonders laut, und nachts ist alles still. Ihre Arbeitslampe ist gut. Aber ihr Gehirn scheint mit Tran oder einem anderen Fett verschmiert zu sein. Alles rutscht wieder heraus.
Sie hat angefangen zu zeichnen, so wie früher. Hat im Buchladen Geld für richtiges Zeichenpapier ausgegeben. Wasserfarben und Buntstifte hatte sie immer schon. Eigentlich hat sie keine Zeit für diese Dinge, denn sie muss sich auf die Schule konzentrieren. Man kann sagen, dass Konzentration jetzt das Wichtigste im Leben ist. Dennoch sitzt sie abends da und hört das Kratzen auf dem Papier.
Sie zeichnet das, woran sie sich vom Friedhof und von den Stränden der Insel, wo sie aufgewachsen ist, erinnert. Die alten Bäume im Pfarrgarten. Eines Abends tauchen die Umrisse eines Tores und eines Zaunes auf, von denen sie nicht weiß, wo sie sie gesehen hat. Sie füllt den Rest von Landschaft und Zaun aus. Das Gestrüpp, das sie umgibt. Sie begibt sich gewissermaßen hinein und bleibt lange sitzen und sieht es an, als es fertig ist. Aus der Zeichnung kommen kleine Geräusche. Vogelzwitschern. Fahrradreifen im Kies. Sie hört, wie ein Boot auf den Strand gezogen wird, ohne dass sie das Boot gezeichnet hat.
Eines Tages zeichnet sie ihr Zimmer mit Fensterkreuz und leerer Blumenvase auf dem Tisch. Es ist nicht gut genug, aber immerhin ein Trost in der Melancholie. Dieses Wort gefällt ihr. Melancholie. Sie hat es in irgendeinem Roman gelesen, kann sich aber nicht erinnern, in welchem. Ein anderes Wort ist Tristesse. Das klingt französisch. Alles, was französisch ist, ist für sie weich und elegant zugleich. Sogar ein Wort mit drei s und zwei e.
Sie versucht Menschen zu zeichnen, aber dabei kommen immer wieder schöne Frauen heraus, die Elizabeth Taylor ähneln, mit einer kleinen geraden Nase und welligen Haaren. Oder schlimmer noch, sie selbst mit gelben Haaren und wippenden Brüsten. Sie erlässt ein Verbot. Frauen werden nicht gezeichnet! Gesichter sind untersagt, Hände und Rücken aber nicht. Sie spezialisiert sich auf Holz mit Mustern aus Astlöchern.
Dann taucht das Gesicht ihrer Großmutter mütterlicherseits auf dem Zeichenblock auf. Runzlig, mit markanter Nase und Augen, die ihr ins Gesicht schauen. Sie sitzt da und starrt zurück. Das hat sie gemacht?
Sie versucht auch, ihre Träume zu zeichnen. Aber das verdirbt ihr die Stimmung. Entweder ist es zu hässlich oder zu töricht. Erinnert sie daran, wie feige und ausweichend sie ist. Als ob sie nur wartet. Sie watet durch ihr Leben und wartet.
Raskolnikow
Die Tasche lastet schwer auf ihrer Schulter. Sie hätte einen Rucksack nehmen sollen. Aber sie hatte gedacht, dass sie nach der Schule vielleicht noch in die Bücherei gehen würde. Sie kann sich nicht immer erinnern, was sie eigentlich vorgehabt hat. Sie ist gleichsam gespalten, als wäre sie mehrere Menschen auf einmal.
Im Treppenhaus riecht es nach Frikadellen, deshalb läuft sie rasch auf ihr Zimmer. Es bringt nichts, den Hunger zu wecken, da sie an diesem Tag nur belegte Brote hat. Jetzt bereut sie, keine Fischfrikadelle gekauft zu haben.
Sie legt die ausgeliehenen Bücher auf den Schreibtisch. Zwei davon gehören zusammen und sind von einem Russen geschrieben worden. F. M. Dostojewski. Sie hat von ihm gehört, aber noch nichts von ihm gelesen. Der Rektor hat im Unterricht über diesen Schriftsteller gesprochen und das Wort »Weltliteratur« benutzt.
Die Bücher, »Schuld und Sühne« Band 1 und 2, sind uralt, ohne festen Einband und scheinen nicht viel gelesen worden zu sein. Immerhin sind die Seiten aufgeschnitten. Sie sind vergilbt und kleben zusammen, sie muss die Blätter mit aller Vorsicht voneinander lösen. Die Titelseiten hat eine Person namens V. Setoft gezeichnet. Es könnte schön sein, Zeichnen und Malen als Beruf zu haben, denkt sie. Aber davon kann man sicher nicht leben. Das sind nur kindische Träumereien.
Der erste Band zeigt einen jungen Mann mit grüngelbem Gesicht und düsterer Miene zusammen mit einem fetten Kerl mit roter Visage. Und einer Axt. Der zweite Band zeigt den jungen Mann, noch immer düster sitzt er auf einem Bett. Vor ihm steht eine Frau mit dunklen Haaren und rotem Tuch. Der Mann heißt offenbar Raskolnikow.
Sie setzt sich mit geradem Rücken an den Schreibtisch und fängt an zu lesen. Das Buch ist auf Dänisch, sieht sie. Soll sie es zurückbringen? Warum hat eine norwegische Bücherei Bücher auf Dänisch? Ihr Blick gleitet über die erste Seite und sie merkt, dass kein Wort dort für sie unverständlich ist. Nur ungewohnt.
So fängt es an: