Schritt für Schritt. Herbjørg Wassmo

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Schritt für Schritt - Herbjørg Wassmo

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glauben, sie hätten dich, aber du musst ihnen zeigen, dass sie sich irren.

      Die Frau des Dichters

      Der Ort will den hundertsten Geburtstag des großen Dichters feiern. Dass er im Krieg auf der falschen Seite gelandet ist, wird nicht so eng gesehen. Dass er sogar einen Nachruf auf den Führer verfasst hat, versucht man zu verschweigen. Aber natürlich erwähnen einige es eben doch. So ist es ja immer. Immer gibt es welche, die Dinge tun, nur um Unfrieden und Diskussionen hervorzurufen. Aber ausgerechnet jetzt! Jetzt, wo sie feiern und froh sein wollen!

      Der Bezirksrat, oder wer auch immer, hat die noch lebende Frau des Dichters eingeladen, um mit ihnen zu feiern. Und dann sollen alle sich gefälligst anständig benehmen. Man soll nicht schlecht über die Toten sprechen und sie nicht kleiner machen, als sie sind. Wir reden hier trotz allem über einen Dichter von Weltgeltung! Einen, der das Dorf im wahrsten Sinne des Wortes auf die Weltkarte gesetzt hat. Soll man sich da mit übler Nachrede und Schikanen abgeben? Bei einem, der als Kind in einem kleinen Dorf gewohnt hat und nach vielen Jahren mit seiner Frau zurückkehrte, um den Boden zu bestellen. Mit eigenen Händen auf eigenem Hof. Steht das stattliche Haus nicht noch immer da? Es ist zwar heruntergekommen und müsste neu gestrichen werden, aber es wohnen ja Leute darin. Und es ist das Haus eines Mannes, der den Nobelpreis bekommen hat. Eine Ehre, die nur verdienten Ausländern zuteilwird.

      So reden und denken sie, wenn sie zusammenstehen und das Beste für den Ort wollen.

      Die Großmutter holt zwei Bücher vom Dachboden und legt sie zur Feier des Tages aufs Büfett in der guten Stube. Der Onkel schnaubt verächtlich, lässt sie aber liegen.

      Sie leiht sie aus und liest sie noch einmal. »Pan« und »Victoria« heißen sie. Ein Wort, das immer wieder in ihrem Kopf auftaucht, wenn sie über den Müllerssohn und Victoria liest.

      Wunderbar.

      Sie kann es nicht laut sagen, wenn andere es hören könnten. Aber es denken, das kann sie.

      Sie war so furchtbar kindlich, als sie diese Bücher zum ersten Mal mit der Taschenlampe auf dem fensterlosen Dachboden gelesen hat. Als die Batterie leer war, schmuggelte sie die Bücher in ihr Bett. Das war, ehe sie ins Dorf gezogen sind, als sie nur in den Ferien bei der Großmutter war.

      Jetzt ist sie erwachsen. Fast alt. Sie ist mit einem kleinen Jungen im Bauch nach Schweden gewandert. Bald wird sie ihn bei der Mutter zurücklassen, weil sie aufs Gymnasium geht. Sie muss etwas werden und sich selbst versorgen können.

      Als Erste sieht die Mutter, wie die Frau den Hang herunterkommt. Sie stehen auf der Veranda und klopfen Teppiche aus. Eine stattliche Gestalt mit üppigem weißem Haar und einer Brosche am Revers. Die Mutter zieht ganz schnell die Teppiche hinter das Geländer und sagt, sie solle hinlaufen und die Frau zum Kaffee bitten. Dann stürzt sie ins Haus, um alles vorzubereiten. Und sie kann nur tun, was die Mutter ihr aufgetragen hat.

      Die Frau des Dichters steht mit abgewandtem Gesicht unter einem Baum. Sie tritt langsam näher und fühlt sich schwerelos vor Schüchternheit. Zwei Schritte vor der Frau bleibt sie stehen. Die Fremde dreht sich zu ihr um und ein kleines Lächeln verwandelt ihr Gesicht in eine Sonne.

      Wer bist du, Kind?, fragt sie mit leiser Stimme.

      Sie antwortet, dass sie mit ihren Eltern im ersten Stock wohnt und dass die Mutter die gnädige Frau zum Kaffee einladen möchte.

      Danke! Und wie heißt du?, fragt die Frau.

      Als sie antwortet, hört sie, dass ihre Stimme kaum trägt.

      Es ist nett von deiner Mutter, zum Kaffee zu bitten, aber ich würde gern hier draußen unter diesem Baum sein … Vielleicht ein Weilchen dort auf der Bank sitzen, sagt die Frau des Dichters und lächelt wieder.

      Ich bring Ihnen den Kaffee, sagt sie eifrig und rennt los, ohne die Antwort abzuwarten.

      Als sie mit dem Kaffee und den frisch gebackenen Hefewecken der Mutter herauskommt, sitzt die Frau auf der Bank und schaut auf die Landschaft hinaus. Sie putzt sich die Nase mit einem weißen Taschentuch und hat blanke Augen.

      Hier konnte man das Meer sehen, jetzt ist alles zugewachsen …, sagt sie leise, wie zu sich selbst. Aber sie nimmt das Tablett entgegen. Kaffee in der Thermoskanne, Tasse, Untertasse und Kuchenschüssel.

      Sie bleibt einfach mit hängenden Armen stehen, ohne zu wissen, wie sie sich verhalten soll. Die Frau des Dichters findet das sicher peinlich.

      Richte deiner Mutter meinen herzlichen Dank aus, ich stelle das Tablett auf die Treppe, wenn ich gehe, sagt sie und möchte sicher allein sein. Aber sie beugt sich vor und reicht ihr die Hand. Es ist eine Überraschung, die anzufassen. Sie hat eine Arbeitshand.

      Später, als die Frau des Dichters schon längst das Tablett auf die Treppe gestellt hat und wieder den Hang hochgegangen ist, denkt sie an das Gespräch, das möglich gewesen wäre. Sie läuft hinaus und setzt sich auf eine Bank in dem überwucherten Garten. Stellt sich vor, die sei noch warm, weil die Fremde dort gesessen hat. Dann stellt sie alle möglichen Fragen. Wie es war, als sie damals den Hof betrieben haben und sie mit ihren Kindern hier wohnte. Der Dichter selbst war natürlich im ganzen Land unterwegs und schrieb seine Bücher.

      Sie fragt, ob er ihr etwas darüber erzählt hat, was er schrieb, ehe es gedruckt wurde. Irgendwann hat sie das Gefühl, die Antworten der anderen zu hören, in ihrem eigenen Kopf. Die Stimme ist deutlich, genau wie in Wirklichkeit. Sie erzählt von Einsamkeit, ohne das direkt zu sagen. Nicht klagend, eher als ob sie aus einem Buch vorliest. Darüber, in den Augen der Leute anders zu sein, weil sie aus einem anderen Landesteil stammt. Darüber, mit einem Mann zu leben, aus dem niemand schlau wird. Die zu sein, die zwischen Dorf und Dichter steht und alle praktischen Probleme klären muss. Wie es ist, zurück an diesen Ort zu kommen, dieses Haus zu sehen, in dem sie gelebt und Kinder geboren hat, und den Hof, den sie meistens allein mit dem Gesinde bewirtschaften musste. Es ist wehmütig. Sie benutzt dieses Wort, wehmütig. Und wieder werden ihre Augen blank. Sie ist nicht traurig, die Wehmut ist schuld daran.

      Sie wird sich für immer an dieses schöne Wort erinnern. Wehmut. Aber sie wagt nicht zu fragen, wie es war, die Frau eines berühmten Mannes zu sein. Der dann Schande und Elend über die ganze Familie gebracht hat.

      Stattdessen vertraut sie sich an, erzählt, dass sie im selben Zimmer ein Kind geboren hat, mit derselben Hebamme wie die Frau des Dichters. Und die Frau des Dichters schlägt die Hände zusammen und seufzt, so dass ihr üppiger Busen sich mehrmals hebt und senkt.

      Und noch so jung, sagt sie. Aber du brauchst dich nicht zu schämen. Du bist doch kein Nazi. Nicht verzweifeln, sagt die Frau des Dichters und weiß sehr viel über die Nazis. Vieles, das sonst niemand weiß.

      Freimütig gesteht sie der Fremden, dass sie sich vor dem Gymnasium fürchtet, sich aber darauf freut, von zu Hause wegzukommen. Sie fragt ganz offen, ob sie ein schlechter Mensch ist, weil sie ihr Kind verlässt, wie der Dichter es ja auch immer wieder getan hat.

      Nicht doch, sagt die andere. Du bist alt genug, um zu wissen, dass solche Dinge dich nicht zu einem schlechten Menschen machen.

      Sie erzählt, dass sie vom Pastor ein Leumundszeugnis einholen musste, um sich an verschiedenen Gymnasien bewerben zu dürfen.

      Und wie ging das?

      Er hat geschrieben, mein Leumund sei tadellos und über meinen ethischen und moralischen Wandel sei nichts hinzuzufügen.

      Dem Pastor

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