Totensteige. Christine Lehmann

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Totensteige - Christine Lehmann

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style="font-size:15px;">      Erst in Richards Limousine fühlte ich mich wieder sicher in der Welt. Sie wird zuverlässig geordnet von Ampeln, Pfeilen auf Fahrbahnen, Schildermasten und Halte- und Parkverboten. Mehr braucht kein Mensch, um zu wissen, wo er verweilen darf und wo nicht, wohin seine Reise geht und dass ein U-Turn an dieser Stelle verboten, weiter vorn aber erlaubt ist.

      Auf meinem Handy war, wie ich feststellte, ein Anruf eingegangen, und zwar schon gegen 21 Uhr. Es war eine Nummer mit einer Vorwahl, die ich nicht zuordnen konnte.

      Wir passierten auf breiter Stadtschneise das Blühende Barock, das hinter feudalistischen Mauern und Pforten mit seiner riesigen Schlossanlage und dem Küfer Paul schlummerte, der die kleine Ecke zwischen Kirche, Fasskeller und Glockenstuhl bespukte.

      »Die Vorwahl 07571, wo gehört die hin?«, fragte ich Richard.

      »Sigmaringen.«

      »Ich kenne niemanden in Sigmaringen!«, behauptete ich. »Nein, ich kenne da doch wen: Kitty zu Salm-Kyrburg.«

      »Die Retterin Hohenzollerns.« Richard sprangen die Hirnschubladen wieder von alleine auf. »Amalie Zephyrine von Salm-Kyrburg, geboren 1790 in Paris, verstorben 1841 in Sigmaringen. Sie hat die Souveränität des Fürstentums Hohenzollern-Sigmaringen gegenüber Baden und Württemberg behauptet, übrigens auch die von Hohenzollern-Hechingen.« Richard war in Balingen im Schatten der Burg Hohenzollern aufgewachsen.

      »Meine Geister-Kitty betreibt einen Schönheitssalon in Sigmaringen. Und sie kennt Juri Katzenjacob.«

      »Hm.«

      Es war zu spät für einen Rückruf, oder vielmehr zu früh.

      »Aber erschrocken warst du schon auch?«, erkundigte ich mich, als die Häuser links und rechts der fürstlichen Stadt­autobahn, die Ludwigsburg zweiteilte, zurückblieben und wir ins Dunkel der Schnellstraße rollten.

      »Ja!«, antwortete Richard freimütig. »Das war ganz großes Kino. Und weißt du, was mich am meisten erschreckt hat? Dass es irgendwie passte. Ich dachte nämlich gerade: Jetzt läuft alles auf Neuschwanstein raus. Auf König Ludwig und seinen mysteriösen Tod im Starnberger See. Und wenn jetzt Neuschwanstein rauskommt, dachte ich, dann ist das der Beweis, dass es nicht Rosenfelds Geist sein kann. Und bums, kam der Abbruch!«

      »Ein arg verrückter Zufall!«

      »Glaubst du, dass uns wirklich Rosenfelds Geist erschienen ist?«, erkundigte er sich.

      »Nee! Quatsch! Das waren wir selber mit dem, was uns so im Kopf herumspukt. Was hätte Rosenfelds Geist im Seeschloss Monrepos verloren?«

      »Eben. Und zufällig weiß ich, dass unser Vizegeneral Krautter Ende vergangenen Jahres Neuschwanstein besucht hat.«

      Ah ja! Und genau das zu sagen, wenn unsere Séance vorbei war, hatte er sich vorgenommen, als es knallte und blitzte. Und zwar damit vor allem seine Vorzimmerdame Roswita Kallweit nicht in der ganzen Staatsanwaltschaft herumerzählte, sogar der immer so kühle und rationale Oberstaatsanwalt Weber sei hinterher von der Existenz der Geisterwelt überzeugt gewesen. Doch genau dieser Erklärungsbeweis war von einem zufällig in diesem ­Augenblick am Seeufer wendenden Auto vernichtet worden, bevor er entstanden war. Das war selbst schon wieder spukig.

      »Aber das mit Edward Gurney …«

      »Edmund!«

      »Zum Teufel, das hast du erfunden! Ich glaube durchaus an dein Gedächtnis, aber ich weiiiigere mich zu glauben, dass es Randfiguren der britischen Geschichte mit einschließt.«

      Richard warf mir einen zufriedenen Blick zu. »Freut mich, dich noch verblüffen zu können. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, die Edmund-Gurney-Stiftung ist mir in einem anderen Zusammenhang schon einmal untergekommen.« Wenn er so sprach, wollte er den Zusammenhang nicht nennen. Er lenkte auch sofort ab. »Übrigens ist dieser Gurney unter reichlich mysteriösen Umständen gestorben.«

      »Richard, ich bin müde! Was für Umstände?«

      Ich werde nie verstehen, wieso manche Menschen meinen, es sei alles gesagt, wenn über den Tod eines anderen Menschen gesagt wird, er sei nach langer oder kurzer schwerer Krankheit (welcher?) oder aber unter mysteriösen Umständen (welchen?) gestorben. Das hat nichts mit Neugierde zu tun, jedenfalls nichts mit meiner persönlichen. Es ist vielmehr ein soziales Recht zu wissen, woran und wie Mitmenschen sterben, damit man den gleichen Fehler vermeiden kann.

      »Nun ja«, sagte Richard, »Gurney bekam einen Brief, der ihn nach Brighton rief. Ohne seiner Frau oder sonst wem Bescheid zu geben, ist er dorthin gereist und hat sich im Hotel Royal ­Albion eingemietet. Am nächsten Morgen war er tot. Man fand ihn mit einem Tuch auf dem Gesicht, das mit Chloroform getränkt war.«

      »Mit Rosenkranz?«

      »Nein, Lisa. Es ist nicht, wie du denkst. Alle haben damals mit Chloroform hantiert. Gurney soll es verwendet haben, um neuralgische Schmerzen zu betäuben. Ob sein Tod aber ein Unfall war oder Suizid, ist nicht geklärt.«

      »Oder ob ihn der Unbekannte ermordet hat, von dem der Brief stammte.«

      »Es gab Gründe für einen Suizid, Lisa. Gurney war zwar Freund etlicher berühmter Zeitgenossen, aber selbst nicht so erfolgreich, wie er es gern gewesen wäre. Er soll an einer Depression gelitten haben. Auch vermutet man, dass seine Ehe nicht glücklich war, denn seine Frau heiratete wenige Monate nach seinem Tod ein zweites Mal.«

      »Na, die hat in der Tat nicht lang suchen müssen.«

      »Das Datum seines Todes ist übrigens bemerkenswert. Er starb am 23. Juni, also im 6. Monat. Die Zahl 6 steht im Okkultismus für die Offenbarung des Johannes, also für Weltuntergang und den Antichrist, vor allem als 666. Und im griechischen Alphabet heißt der 23. Buchstabe Psi …«

      Ich konnte das Lachen nicht unterdrücken.

      »Allerdings«, fuhr Richard vergnügt fort, »wird die Bezeichnung Psi erst nach dem Zweiten Weltkrieg für paranormale Phänomene verwendet. Das mag der Grund sein, warum erst im zwanzigsten Jahrhundert die Zahl 23 zum Symbol für das Geheime und Zerstörerische wird, zur Zahl der Illuminaten.«

      Es lachte aus mir heraus. Es war einfach zu viel. »Die Illuminaten! Jawoll! Vampire, Gespenster und Illuminaten!«

      Es war einer der seltenen Momente, wo ich Richard feixen sah. »Gut, gell? Es gibt so wenige Ziffern und so viele Bedeutungen. Da landet man immer einen Treffer. Die Illuminaten sind übrigens keine Erfindung der Romanciers. Es gab sie wirklich in Ingolstadt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als in Europa Könige und ihre Mätressen regierten. Die Illuminaten wollten Aufklärung und sittliche Verbesserung der Gesellschaft. Das verstanden die absolutistischen Despoten natürlich als Angriff auf sich selbst. Die Gruppe wurde verboten. Erst die Romanschreiber und Filmemacher haben sie zu erbitterten Feinden der katholischen Kirche und zu Agenten einer finsteren Weltverschwörung stilisiert.«

      Mir flashte das Bild der Uhr am Giebel von Kalteneck ins Hirn. Drei nach acht. »Die Uhr!«, sagte ich. »Sie stand! Und zwar 20 Uhr 3 – 23!«

      »Welche Uhr?«

      »Das kann kein Zufall sein, Richard. So viele Zufälle gibt es nicht. Die Illuminaten haben den Mord an Rosenfeld angeordnet und von einem abergläubischen Adoptivkind aus Rumänien ausführen lassen.«

      »Und zwar warum?«

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