Heimkehr. Jan Eik
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Das war jetzt alles gleichgültig. Er war frei. Solange seine Kraft reichte, konnte er gehen, wohin er wollte. Dabei zog es ihn nirgendwohin. Er war zu Hause angekommen, wie immer dieses Zuhause in der zerbombten Stadt auch aussah. In halb Europa war er während dieses gottverfluchten Krieges gewesen. Er hatte sich in Norwegen zwei Finger erfroren und im italienischen Apennin einen Hitzschlag erlitten, bis ihn der Schrecken aller Schrecken ereilte: die Ostfront. In seinen Träumen heulte die Stalinorgel, rasselten die Panzer auf ihn zu. Wie lange würde es dauern, bis er das alles vergessen konnte?
Hinter ihm lagen zwei Jahre Gefangenschaft. Nachdem die Russen ihn nach den Kämpfen in Ostpreußen schwer verwundet aufgesammelt und zu seinem Glück in einem Lazarett abgeliefert hatten, wäre er dort beinahe von den Läusen aufgefressen worden. Er erwies sich als zäh, und seine Wunden verheilten, so dass man ihn in ein Gefangenenlager schickte, wo er den Hunger kennenlernte. Bis vor zwei Wochen hatte er die Tage in der Ungewissheit verbracht, ob er nicht doch noch mit einem der nach Osten gehenden Transporte verschwinden würde wie Tausende andere. Dann war der Zug gen Westen gerollt. Sie hatten ihn tatsächlich entlassen.
Er sog die Waldluft ein, als hätte er seit Jahren keine frische Luft geatmet. Seit gestern sah die Welt ganz anders aus. Was für ein friedliches Bild! Er hatte überlebt – nach all den Jahren in fremder, oft genug feindlicher Verlorenheit, wo einen das Unglück in der nächsten Minute ereilen konnte. Anfangs hatte es Zeiten gegeben, in denen es gar nicht schlecht aussah. In Holland beispielsweise. Am Ende jedoch, als niemand mehr wusste, ob der Ort, den man brennend verließ, sich noch in Russland oder in Polen befand, bevor das Grauen auf Ostpreußen übergriff, drohten nur noch Zerstörung und der alltäglich gewordene Tod.
Jetzt war beinahe alles gut. Die Begrüßung hatte er sich etwas herzlicher vorgestellt. Ein kühles «Willkommen» eben. Kein Wunder nach alldem, was hinter jedem lag. Alles würde sich einrenken, dessen war er sicher. Allein der Anfang schien wunderbar: Sie waren auf dem Weg, einen Festbraten zur Feier seiner Heimkehr zu beschaffen. Es gab noch glückliche Fügungen. Er war gerade zur rechten Zeit erschienen. Der Förster, ein guter Bekannter, hatte ein Wildschwein geschossen!
Nach seinen Erfahrungen mit den Russen erstaunte ihn, dass es in deren Besatzungsbereich Deutsche gab, die Waffen besaßen.
«Russischer Sektor» hieß das hier in Berlin. Ringsum erstreckte sich die «Zone». Er musste das neue Kauderwelsch lernen, doch es gab Wichtigeres. Zuerst einmal kamen das Essen, die Lebensmittelkarten, von denen jeder sprach. Obwohl ihm Klamotten beinahe ebenso wichtig erschienen. Er brauchte bloß an sich herunterzublicken. Die Schuhe bestanden nur aus Fetzen. Die vom Cousin großzügig angebotenen Stoffschuhe hatten sich als zu klein erwiesen.
Er durfte nicht ungeduldig werden. Eines nach dem anderen. Vor allem musste er sich nach Arbeit umsehen, so schwach er sich auch fühlte.
Sein Begleiter blieb stehen.
«Ist was?», fragte er.
Der Cousin schüttelte den Kopf. Mit prüfendem Blick maß er ein vier Finger dickes Eichenstämmchen, rüttelte daran und bog es weit nach allen Seiten. Das junge Holz brach nicht. Wortlos buddelte der Cousin ein klobiges Taschenmesser aus seinem Rucksack, klappte die breite Klinge heraus und begann, dicht über der Wurzel eine tiefe Kerbe in den Stamm zu hacken.
«Wozu brauchst du den?», fragte er.
Der andere blickte nicht auf. «Wir werden viel Feuerung brauchen diesen Winter», sagte er. «Auf dem Rückweg nehmen wir Kleinholz mit.»
Er sah sich um. Halbwüchsiges Gebüsch säumte den Pfad. Die Bäume waren bis weit hinauf zu den ersten Ästen kahl. Nirgends lag Reisig auf dem weichen Waldboden.
«Die Leute holen alles weg für den Winter», erklärte der andere. Mit seinem eleganten Schuhwerk trat er fest gegen die junge Eiche, doch die fiel nicht. Er schnitzte die Kerbe mittels kräftiger Hiebe noch etwas tiefer. Schließlich gelang es ihnen gemeinsam, den gut mannshohen Stamm umzulegen. Der andere kappte die Krone und ein paar Zweige und ließ sie achtlos liegen.
Sie gingen weiter. Der Cousin schnitzte mit seinem Messer an dem Eichenknüttel herum und blieb allmählich ein wenig zurück.
Auch er verlangsamte seine Schritte. Er spürte die Schwäche in allen Gliedern. Und den Hunger. Das war ein gewohntes Gefühl, doch er fühlte sich leicht ums Herz. Eine alberne Floskel, gewiss. Aber er hätte es nicht anders ausdrücken können. Dabei ging ihm diese verfluchte Märkische Heide nicht aus dem Sinn. Seit sie aus dem Bus gestiegen waren, dröhnte das blöde Lied in seinem Kopf, als gäbe es kein anderes. Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt beispielsweise. So was war jetzt Mode. Und amerikanische Musik mit jaulenden Saxophonen und einem Rhythmus, der in die Beine ging, aber nicht zum Marschieren anregte.
Im Lager hatten nur die russischen Wachmannschaften gesungen, schwermütige Melodien oder Soldatenlieder, die ganz anders klangen als die deutschen Landserhymnen. Den Deutschen war das Singen vergangen. Jeder wartete nur, wohin die ihn schicken würden – nach Hause oder nach Sibirien. Ein Drittes gab es nicht. Wohin der Transport wirklich ging, erfuhr man erst, wenn man die Papiere in der Hand hielt und in den Waggon kletterte.
Von den Kämpfen um Berlin hatten sie im Lager nichts erfahren. Dort machten die Gerüchte von der uneinnehmbaren Alpenfestung und dem Einsatz lange geheim gehaltener Wunderwaffen die Runde. Erst die dreitägige Siegesfeier der Russen und die grimmige Ansprache des nicht ganz nüchternen Kommandanten machten auch dem letzten Endsieggläubigen den Ausgang des Krieges klar. Nun sah er, dass auch hier gekämpft worden war. Verstreut lagen Stahlhelme, Gasmaskenbehälter und allerlei militärisches Zubehör herum. Schützenlöcher säumten den Pfad, der sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte.
Neben einem der Löcher blieb er stehen. Im gelben Sand lagen der verbeulte Deckel eines Kochgeschirrs und ein Uniformfetzen. Gerade wollte er sich zu seinem Begleiter umwenden, als ihn ein heftiger Schlag gegen den Hals in die Knie zwang. Er stolperte, fiel vornüber, versuchte sich mit den Händen abzustützen. Doch vor ihm war nur die Grube, in die er endgültig stürzte, als ihn ein neuer Hieb ins Genick traf, kräftiger sogar als der erste. Und noch einer. Um ihn herum versank der Wald in Dunkelheit und Schmerz.
ZWEI
HERMANN KAPPE hatte Glück gehabt. Wenn man es Glück nennen wollte, die Zehenspitzen auf einem rostigen Straßenbahntrittbrett untergebracht zu haben und sich wenigstens mit der linken Hand an einer Stange festzuklammern. Während die Finger zu erlahmen drohten, bemühte er sich vergeblich, seine Nase vom Rucksack des Vordermanns fernzuhalten, dem ein ekelhafter Geruch entströmte. Was mochte der Kerl darin transportieren? Jedenfalls nichts Essbares, wie Kappe hoffte, allein schon um seinen Magen zu beruhigen, in dem die Reste einer klitschigen Scheibe Brot im Morgenmuckefuck quollen. Eine zweite, gleichermaßen von einem Wasserstreifen durchzogene Stulle graulte sich in der Brotbüchse. Er fühlte das blecherne Ding durch das Leder der schäbigen Aktentasche, die er mit der Rechten umklammerte.
Jeden Morgen ärgerte er sich über diese hochstaplerische Tasche und ihren armseligen Inhalt. Sein Mittagessen, ebendiese Scheibe trocken Brot, hätte statt der leeren Brieftasche bequem in die Innentasche des Jacketts gepasst, und auf die schwachbraune Flüssigkeit in der abgesplitterten Emailleflasche konnte er zugunsten des Berliner Leitungswassers verzichten. Doch alles Reden nutzte nichts. Klara bestand darauf, dass er das Haus wie ein ordentlicher Mensch und Beamter mit einer Aktentasche unter dem Arm verließ. Wie leicht konnte sich über den langen Tag hin eine Gelegenheit ergeben, irgendetwas Nützliches, unter Umständen gar Nahrhaftes aufzutreiben, für das man ein Behältnis benötigte. Etwas «organisieren» nannte Klara das, obwohl sie die Abneigung ihres Gemahls gegen das Wort und erst recht gegen die Tätigkeit nur zu gut kannte.
Kappe,