Heimkehr. Jan Eik
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Er hielt stand bis zum S-Bahnhof und fuhr durch den noch immer modrig riechenden Untergrund zum Oranienburger Tor. Die Schmutzmarke im oberen Viertel der Tunnelwand verriet, wie hoch das Wasser in dem bei Kriegsende gefluteten Tunnel gestanden hatte. Es galt als ziemlich sicher, dass die SS die Tunneldecke unter dem Landwehrkanal gesprengt hatte. Über die Zahl der geborgenen Leichen kursierten die abenteuerlichsten Gerüchte, sämtlich übertrieben, wie Kappe ebenfalls wusste. Dennoch war ihm bei den ersten Fahrten einigermaßen mulmig zumute gewesen. Doch woran hatte man sich nicht alles gewöhnt. Er fand es eher bemerkenswert, dass er nach dreieinhalb Jahrzehnten bei der Mordkommission seine Abneigung gegen den Geruch des Todes nicht eingebüßt hatte.
In der Oranienburger Straße kletterte er erleichtert ans Tageslicht. Hier standen noch ein paar weniger zerstörte Häuser zwischen den Ruinen. Seit neuestem bog hier wieder die Straßenbahn aus der Friedrichstraße ein. Das riesige Haus der Technik an der Ecke ragte als schwarze Brandruine auf. An der gelben Fassade des Postfuhramtes kündeten nur die Einschusslöcher von den heftigen Kämpfen in den letzten Tagen des Krieges.
Sein Weg führte Kappe durch die Artillerie- zur Linienstraße, wo man das Polizeipräsidium im Gebäude des ehemaligen Metallarbeiterverbandes einquartiert hatte, von den Nationalsozialisten als Gauleitung der Deutschen Arbeitsfront genutzt. Die Kriminaldirektion nutzte noch immer die einstigen Zellen in der Dircksenstraße, doch Kappe und einen Teil des Referats M hatte es in die Linienstraße verschlagen.
Kappe, von Berufs wegen auf ein einigermaßen funktionierendes Gedächtnis angewiesen, staunte immer wieder. Das Kriegsende lag nicht einmal anderthalb Jahre zurück, und schon war so vieles vergessen. Überall hatte man die Trümmer von den Fahrbahnen geräumt und die Granattrichter behelfsmäßig verfüllt, von den Bürgersteigen war der Schutt hinter aufgestapelte Ziegel und ausgeglühte T-Träger in die Ruinen geschippt worden. In den Erdgeschossen machten sich Läden und Werkstätten breit. Autos der Besatzungsmächte oder solche, die mit dem russischen Kennzeichen
, gelber Motorhaube und einem gelben Punkt als «in deutschem Besitz» markiert waren, holperten durch die Straßen.Im Präsidium wies Kappe dem stramm grüßenden Wachtmeister seine viersprachige Legitimation vor und stiefelte hinauf in den vierten Stock. Das Gebäude, obwohl von Bomben verschont geblieben, glich einer notdürftig aufgeräumten Ruine. Türen hingen schief in den Angeln oder fehlten, die Fenster waren mit Pappe vernagelt. In seinem Büro beleuchtete das trübe Licht einer nackt von der Decke baumelnden Glühbirne das zusammengesuchte Mobiliar. Kappe hatte sich einen ausnehmend schweren Schreibtisch gesichert und in die Nähe des Fensters geschoben. Das wuchtige Stück bot einige Gewähr, es noch am nächsten Morgen vor zufinden. Einen Stuhl hatte er sich schon dreimal neu besorgen müssen. Und das im Berliner Polizeipräsidium!
Heute schien alles in Ordnung. Niemand hatte sein wackliges Sitzmöbel entwendet oder vertauscht, durch die winzige Scheibe im unteren Teil des Fensters fiel ein Strahl der Septembersonne auf die narbige Platte seines schwergewichtigen Antikmöbels. Das Glas, einst das Porträt des finster blickenden Fanatikers mit dem Chaplin-Bärtchen vor Fliegenschiss schützend, hatte Kappe eigenhändig zugeschnitten, nachdem er das Führerbild hinter dem Aktenschrank entdeckt und eilig zerfetzt hatte. Ein Glasschneider gehörte in diesen Zeiten zu den unentbehrlichen Werkzeugen, selbst wenn man Kriminalkommissar von Beruf war.
Kappe öffnete die Aktentasche, platzierte Stullenbüchse und Emailleflasche vor sich auf dem Schreibtisch und schloss dessen rechte Seite mit dem einzigen Schlüssel auf, der sich hatte auftreiben lassen. Kaum hatte er seine Utensilien im oberen Fach verstaut, als die Tür aufgerissen wurde und ein strammer Jüngling mit akkurat gestutzter schwarzer Haartolle hereinstürmte – ein Jüngling jedenfalls aus der Sicht des 58-jährigen Kappe. Udo Schieck war 31, gelernter Fotograf, verflossener mittlerer HJ-Führer und Unteroffizier, den die Russen irgendwo kurz vor dem Ural in einem Antifa-Kursus so gründlich umgeschult hatten, dass Kappe mitunter der Mund offen stand vor Staunen. Dabei war klar, dass man ihm, dem altgedienten Lakaien dreier Systeme, den eilfertigen Konvertiten Schieck keineswegs nur als Kriminaltechniker, sondern zur Kontrolle und Überwachung beigeordnet hatte. Von Kriminalistik verstand der nicht die Bohne, schlug aber allen Ernstes vor, die sich häufenden Mordfälle künftig mit den Methoden des dialektischen Materialismus aufzuklären.
Unter Materialismus konnte Kappe sich etwas vorstellen, was der Dialekt bei den Mordermittlungen sollte, blieb ihm dunkel, und er hütete sich, Schieck danach zu fragen. Der brachte es fertig und ritt eine halbe Stunde auf Marx und Lenin herum, bevor er mit einem langatmigen, von Kappe ohnehin nicht überprüfbaren Zitat des hochgeschätzten Generalissimus Stalin abschloss. Ein paarmal ließ Kappe den konfusen Vortrag schlecht verdauter Schlagworte an sich abperlen, ehe er Schieck bärbeißig zur Ordnung und in den kriminell-kriminalistischen Alltag zurückgerufen hatte: «Wir haben – ganz unabhängig von jeder Weltanschauung – Mord und Totschlag aufzuklären, Verehrtester!» Ihn «Genosse» zu nennen, wie es Schieck hartnäckig forderte, fiel Kappe nicht im Traum ein.
Selbstverständlich war Schieck noch vor Eintritt in die vorerst lichten Reihen der Kriminalpolizei Mitglied der KPD geworden. Begeistert hatte er im April deren Vereinigung mit der SPD gutgeheißen und seitdem nicht aufgehört, Kappe zum Beitritt in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands aufzufordern. Die kürzte sich selbst als SED ab, während der amerikanisch lizenzierte Tagesspiegel, den Kappe seit dem ersten Erscheinen bevorzugte, die Partei hartnäckig als SEP bekrittelte und ebenso hartnäckig am selbständigen Fortbestand der Sozialdemokratie festhielt. Der stand Kappe eingedenk seiner Erfahrungen durchaus nahe, ohne sich zur SPD-Mitgliedschaft zu entschließen. Für seinen Geschmack wurde im Augenblick sowieso viel zu viel von Politik geredet, insbesondere seit der Wahltermin im Oktober feststand.
Kettenraucher Schieck, der das Sprachrohr der Russen, die Tägliche Rundschau, als Lektüre bevorzugte, zündete sich die erste Zigarette an und trug die Neuigkeiten aus der Berliner Zeitung vor, die ebenfalls als russisch orientiert galt. Dass vorgestern am Bahnhof Bernau eine Razzia stattgefunden hatte, um Arbeitskräfte für den Rüdersdorfer Kalkbruch zu rekrutieren, wusste Kappe bereits. Und dass dem britischen Militärkommandanten in Gatow sein Boot geklaut worden war, versetzte die Kollegen vom entsprechenden Dezernat sicherlich in so große Aufregung, wie Schieck sie plötzlich erkennen ließ. Auf Abschnitt 7 der Raucherkarte M gab es sechs Zigarren oder eine Packung Kautabak, für F wie Frauen lediglich sechs Zigaretten. «Allerdings nur im sowjetischen Sektor», wie Schieck triumphierend hervorhob. Das war ein weiterer Dissens zwischen ihnen: Kappe sprach wie alle Welt nur vom «russi schen Sektor» und der entsprechenden Zone, Schieck beharrte auf «sowjetisch», was Kappe achselzuckend akzeptierte.
Gerade stolperte Schieck über eine Meldung, die besagte, der Rundfunk im amerikanischen Sektor Berlin würde heute seinen Sendebetrieb über Mittelwelle 492 Meter gleich 610 Kilohertz beginnen. «Oberbürgermeister Doktor Werner wird über diese Welle um fünfzehn Uhr eine Begrüßungsansprache halten.»
«Ja, und?», erkundigte sich Kappe. «Wollen Sie sich die anhören?»
Schieck, der eher klein geraten war und noch dazu auf einer Art niedrigem Schemel hockte, richtete sich steil auf. «Können Sie mir erklären, wozu die Amerikaner einen eigenen Rundfunk für ihren Sektor brauchen?», fragte er scharf.
Kappe hob die Schultern. «Die Russen haben doch auch ihren eigenen Sender.»
«Das ist der Deutsche Demokratische Rundfunk, der allen fortschrittlichen Kräften offensteht. Außerdem befindet sich der Sender im englischen Sektor!»
«Müsste das nicht ‹britischen› heißen?», korrigierte Kappe sanft, was Schieck zu einer ärgerlichen Handbewegung veranlasste.
«Ach