Auf leisen Sohlen. Horst Bosetzky

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Auf leisen Sohlen - Horst Bosetzky

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herausarbeitet, dass die menschliche Motivation drei dominante Bedürfnisse umfasse: erstens das Bedürfnis nach Erfolg, zweitens das Bedürfnis nach Macht und drittens das Bedürfnis der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Die subjektive Bedeutung jedes Bedürfnisses variiert von Individuum zu Individuum und hängt auch vom kulturellen Hintergrund des Einzelnen ab.»

      «Das hätte ich auch ohne jahrelanges Psychologiestudium an der FU zusammenbekommen», murmelte Otto.

      Sein Sohn grinste. «Und was ist der TAT?»

      Da musste Otto nicht lange überlegen. «Der Tathergang aus Tätersicht.»

      «Denkste! TAT ist der Thematische Auffassungstest von Murray und Morgan, den McClelland weiterentwickelt hat. Bei diesem Test werden den Probanden Schwarz-Weiß-Fotografien vorgelegt, zu denen sie sich Geschichten ausdenken sollen: Was führte zu der gezeigten Situation? Was geschieht gerade? Was fühlen und denken die abgebildeten Personen? Wie ist der Ausgang der Geschichte? Ein Beispiel: Man zeigt zwei Probanden ein Bild von einem Paar, das sich gerade streitet. Der eine äußert: ‹Sie werden sich gleich wieder versöhnen und miteinander ins Bett gehen.› Und der andere sagt: ‹Der Mann wird die Frau gleich umbringen.› Die Antworten erlauben Rückschlüsse zur Psyche der beiden.»

      Otto nickte. «Natürlich. Aber was, wenn nun einer sagt: ‹Erst geht er mit der Frau ins Bett und dann bringt er sie um›?»

      «Dann ist das Sache deiner Mordkommission.»

      Gertrud unterbrach die beiden. «Genug mit euren Albereien! Wir gehen jetzt in den Zoo.»

      Seit der Spaltung Berlins besaßen beide Stadthälften ihren eigenen Zoo: West-Berlin den Zoologischen Garten, eröffnet 1844, und Ost-Berlin seit 1955 den Tierpark am Schloss Friedrichsfelde.

      Der Zoo West hatte seinen Haupteingang am Hardenbergplatz, und dort trafen sich zur abgesprochenen Zeit fünf Mitglieder der Familie Kappe: Otto mit seiner Frau Gertrud und ihrem Sohn Peter und Hermann mit seiner Frau Klara. Deren drei Kinder waren nicht dabei. Margarete war gerade verreist, Hartmut lebte in Ost-Berlin, und Karl-Heinz, das schwarze Schaf der Familie, war irgendwo untergetaucht. Dann gab es da noch Hermann Kappes Bruder Oskar mit seiner Frau und seine Schwester Pauline mit den Ihren. Da den Überblick zu behalten fand Peter enorm schwierig.

      Sonderlich spannend fanden die fünf den Zoo nicht, aber ihn zu besuchen war ebenso ein Berliner Ritual wie die alljährliche Dampferfahrt.

      Hermann erinnerte sich an einen Zoobesuch mit seinem Sohn Hartmut, als der noch klein gewesen war. Heute war Hartmut mit einem Kontaktverbot belegt, weil er in Ost-Berlin bei der MUK arbeitete, der Morduntersuchungskommission. «Hartmut hat damals gefragt: ‹Papa, kaufst du mir einen Elefanten?› Und als ich nachgefragt habe, wo wir das viele Futter für das Tier hernehmen sollten, hat Hartmut geantwortet: ‹Kein Problem, da steht doch Füttern verboten.›»

      Otto seufzte. «Schade, dass der Journalist vom Telegraf nicht mit ihm sprechen konnte. Das hätte so schön zur Überschrift gepasst: Die Verbrecherjagd liegt den Kappes im Blut

      Siegfried Heideblick verfluchte alle Montage. Der Rhythmuswechsel lag ihm gar nicht. Jeden Sonntag schlief er bis in die Puppen, und dann musste er montags um sechs Uhr aufstehen. Denn seitdem sein Vater Möbel-Heideblick gegründet hatte, hieß es: Der Chef hat als Erster im Geschäft zu sein. Dieses Prinzip hatte zur Folge, dass er sich auch nicht von Olaf Nonnenfürst, seinem Handelsvertreter und Fahrer, abholen lassen konnte. Ute musste noch eher in der Schule sein als er in seiner Firma, und so stand sie schon abmarschbereit im Flur, als er sich an den Frühstückstisch setzen wollte. Er küsste und umarmte sie. «Einen schönen Tag wünsche ich dir!»

      Als Ute gegangen war, schmierte er sich sein Paech-Brot. Er beneidete den Hersteller um die wunderbaren Werbesprüche, von denen er die meisten auswendig kannte. Besonders angetan hatte es ihm dieser:

       Schinken nützt nichts, Wurst und Ei,

       fehlt das Paech-Brot dir dabei.

       Moral: Dem Fleisch verfallen oder nicht

       auf Paech-Brot leiste nie Verzicht.

      Warum nur brachte ihm die Reklame für seine Möbel nicht auch so einen Erfolg ein? Er stellte sich vor, in der Hochbahn zu stehen und dort über den Sitzen statt der Sprüche von Paech die seiner Firma zu lesen. Er brauchte unbedingt einen Werbefachmann! Aber den konnte er nicht bezahlen.

      Heideblick stand auf, knallte die Wohnungstür hinter sich zu, schloss ab und lief zur Hobrechtstraße hinunter. Das Schild mit dem Namen Lenaustraße ärgerte ihn. Das war doch idiotisch, eine Straße in Neukölln, wo niemand Gedichte las, nach einem Dichter zu benennen, dazu noch nach einem österreichischen! Ringsum hießen die Straßen nach Berliner und Rixdorfer Kommunalpolitikern, etwa Hobrecht, Bürkner, Schinke, Pflüger und Sander. Warum dann ausgerechnet Lenau? In Gedanken hörte er Ute rufen: «Worüber du dich alles aufregen kannst!»

      Er überquerte die Sonnenallee und musste einen Straßenbahnzug vorbeilassen. Die 95 fuhr noch, während die 3, die in der Hobrechtstraße zwischen Karl-Marx-Straße und Sonnenallee einen Halt gehabt hatte, schon eingestellt worden war. In einer Nische der Karl-Marx-Straße lag die Albert-Schweitzer-Schule, gehalten in den Farben des Grauen Klosters. Wie gern hätte er hier sein Abitur gemacht! Doch sein Vater hatte das nicht zugelassen. «Du wirst Tischler, sonst kannst du Möbel-Heideblick nicht richtig führen!», hatte der bestimmt. Die Karl-Marx-Straße … Dass die Neuköllner ihre gute alte Berliner Straße und die Bergstraße nach diesem Kommunisten benannt hatten, empörte Siegfried Heideblick Tag für Tag. Ohne Karl Marx keine DDR – und ohne DDR keine Mauer. Also musste sie seiner Meinung nach unbedingt rückbenannt werden.

      Heideblick ging die Karl-Marx-Straße in Richtung Rathaus Neukölln hinauf. Seine Firma lag zwischen der Reuter- und der Weichselstraße. Ein blassgelber Straßenbahnzug der Linie 47 kam ihm entgegen. Er betrat sein Geschäft durch den Eingang im Hausflur und nahm erst einmal hinter seinem Schreibtisch Platz. Wenn seine Angestellten nun nacheinander eintrudelten, sollten sie glauben, er hätte die ganz Nacht hier gesessen und gearbeitet.

      Als Erster erschien Olaf Nonnenfürst, ein rundlicher Typ, der wie ein Krapfen aussah.

      «Guten Morgen, Chef!», rief er beim Eintreten. «Haben Sie heute schon Zeitung gelesen?»

      «Nein. Wieso?»

      «Dann halten Sie sich mal fest!» Nonnenfürst warf ihm eine Morgenpost auf den Schreibtisch. «Ihr Onkel ist gestern in seiner Firma niedergestochen worden.»

      Heideblick war etwas verwirrt. «Welcher Onkel? Ich habe mehrere.»

      «Na, der Pillendreher, dieser Ludwig Wittenbeck.»

      Heideblick sprang auf. «Was?» Er nahm die Zeitung zur Hand, aber den drei Zeilen war nicht viel zu entnehmen. Also griff er nach seinem Telefonbuch, riss den Hörer von der Gabel und rief in Kladow an, dann versuchte er es in der Kaubstraße. «Da hebt keiner ab.»

      «Na, wenn er im Krankenhaus liegt oder vielleicht schon …» Nonnenfürst brach erschrocken ab.

      «… tot ist …», vollendete Heideblick den Halbsatz. «Mein Gott! Wir rufen jetzt mal bei allen Krankenhäusern ringsum an, in Kreuzberg, Schöneberg und Neukölln, und fragen nach ihm.»

      Sie brauchten keine fünf Minuten, dann hatten sie herausgefunden, dass Ludwig Wittenbeck im Urban-Krankenhaus lag.

      «Los,

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