Auf leisen Sohlen. Horst Bosetzky

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Auf leisen Sohlen - Horst Bosetzky

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der Menschen niedersticht, die ihn auf frischer Tat ertappen?»

      «Es geht um den Wittenbeck, den Pharmafabrikanten, der einen Einbrecher überrascht hat und von dem mit einem Messer attackiert wurde», ergänzte Kynast. «Wir sollen uns um den Fall kümmern.»

      Kappe dachte nach. «Nein, mir ist kein ähnlicher Fall untergekommen, der noch ungeklärt ist. Allerdings scheint es mir für einen Einbrecher eher untypisch, dass er jemanden niedersticht. Normalerweise suchen die doch das Weite, wenn sie bei einem Einbruch überrascht werden. Schließlich wissen solche Kerle, dass sie für einen Einbruchdiebstahl maximal ein Jahr bekommen, für Totschlag aber leicht zehn Jahre.»

      «Vermutlich ist er in Panik geraten und hat deshalb zugestochen», merkte Piossek an.

      «Und wenn nun jemand, aus welchem Grund auch immer, diesen Wittenbeck ins Jenseits schicken wollte und dabei einen Einbruch nur vorgetäuscht hat?», fragte Kynast.

      «Gibt es denn irgendwelche Spuren?», erkundigte sich Kappe.

      Piossek zuckte mit den Schultern. «Keine verwertbaren Fingerabdrücke. Und auch keine aufgehebelten Fenster oder Türen. Der Kerl scheint Schlüssel gehabt zu haben.»

      «Was für meine These sprechen könnte!», rief Kynast.

      «Hm …» Otto Kappe überlegte einen Moment. «Gut, forschen wir weiter nach.»

      Gisela Wittenbeck war gelernte Medizinisch-technische Radiologieassistentin, hatte aber nach der Heirat ihren Beruf aufgegeben, weil ihr Mann Angst gehabt hatte, die Nähe zu derart gefährlichen Strahlen könnte sie auf Dauer schädigen.

      Für den heutigen Tag hatte sie sich eigentlich vorgenommen, sich in den Krankenhäusern und radiologischen Praxen in der Nähe ihrer Pension umzuhören, ob es dort eine freie Stelle gab. Doch von Minute zu Minute wurde sie unsicherer, ob das eine gute Idee war. Denn sie konnte sich schon vorstellen, mit was für einer Antwort sie rechnen musste: «Liebe Frau Wittenbeck, Sie waren fünfzehn Jahre lang nicht mehr in Ihrem Beruf tätig, und in dieser Zeit haben sich die Röntgendiagnostik, die Strahlentherapie und die Nuklearmedizin stark weiterentwickelt. Wir haben deshalb leider keine Verwendung für Sie.»

      Gisela Wittenbeck konnte nichts aufmuntern, und sie lag am 18. September den ganzen Vormittag über nur auf dem Bett und starrte gegen die Decke. Im Radio berichteten sie unaufhörlich von der Hochzeit des Jahres. Der griechische König Konstantin II. und Prinzessin Anne-Marie von Dänemark heirateten in Athen. Sich das vorzustellen war Gift für ihre Seele, da sie selbst doch so unglücklich war.

      Plötzlich klopfte jemand an ihre Tür. Sie rang sich zu einem mehr gehauchten als hörbar gesprochenen «Ja bitte!» durch.

      Es war Gerda Groß, die Pensionsbesitzerin, die mit ihr das «Resi» besucht hatte. «Frau Wittenbeck, ist etwas mit Ihnen nicht in Ordnung?»

      «Was soll mit mir schon sein? Kommen Sie doch herein!» Sie schaffte es, sich wenigstens auf die Bettkante zu setzen.

      Gerda Groß trat ein. «Sie sehen ziemlich blass aus, gehen Sie doch mal ein bisschen an die frische Luft. In ein paar Minuten sind Sie im Preußenpark. Waren Sie denn eigentlich schon bei der Polizei, um diesen Uwe Dreetz anzuzeigen? Der ist doch garantiert ein Hochstapler, ein Gigolo.»

      Gisela Wittenbeck winkte ab. «Ach, und wenn schon! Das kann ihm doch sowieso keiner nachweisen.»

      Die Pensionsbesitzerin lachte. «Na, obwohl er Sie hat sitzenlassen, haben Sie sich doch in den Kerl verguckt, was?»

      Gisela Wittenbeck wandte sich ab. Frau Groß hatte recht, aber sie wollte sich das nicht recht eingestehen. «Immer habe ich Pech mit den Männern. Uwe ist ein Betrüger, und mein Mann hat mich auch betrogen – mit unserer neuen Putzfrau, der Anita.» Sie hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. «Immer muss alles kaputtgehen!»

      Gerda Groß setzte sich neben sie, umarmte sie und begann mit ihrer Marlene-Dietrich-Stimme zu singen: «Wer wird denn weinen, wenn man auseinander geht, /Wenn an der nächsten Ecke schon ein Anderer steht …» Das schien erst einmal zu helfen. Die Pensionsinhaberin stand wieder auf und wandte sich zur Tür. «Ich muss jetzt noch schnell zu meiner Mutter ins Krankenhaus, und wenn ich wieder zurück bin, gehen wir zusammen ins Kino. In Ordnung?»

      «Ja.»

      «In der Küche steht noch etwas Schokoladenpudding, davon können Sie gerne essen.»

      Gisela Wittenbeck wartete noch, bis Gerda Groß die Pension verlassen hatte, dann ging sie in die Küche, um nach dem Pudding zu sehen. Der stand noch auf dem Gasherd, der vier Kochfelder hatte. Wenn sie jetzt alle Hähne aufdrehte und kein Streichholz an die Brenner hielte, dann … Sie brauchte sich nur bequem auf den Stuhl setzen und warten, bis der Tod sie von allen Qualen erlöste.

      Das Wintersemester 1964 / 65 hatte noch nicht begonnen, warf aber schon seine Schatten voraus. Peter Kappe hatte sich zu einem Vortrag über die Geschichte und Praxis der Gerichtsmedizin angemeldet, obwohl ihn der Zusatz mit Besuchen in der Pathologie eher abschreckte als anzog.

      Es mussten die Gene seines Vaters und vielleicht auch die seines Großonkels Hermann sein, aber die Rechtspsychologie faszinierte ihn immer mehr. Sie zerfiel in zwei Bereiche: die forensische Psychologie, die sich beispielsweise mit Gutachten bei Gerichtsverfahren beschäftigte, und die eigentliche Kriminalpsychologie, bei der es um die Entstehung von Kriminalität, um deren Aufdeckung und die Prävention dagegen ging, aber auch um die Behandlung von Straftätern.

      Um sein Wissen etwas zu erweitern, wollte sich Peter Kappe nun diesen Vortrag der Nachbardisziplin zur Geschichte und Praxis der Gerichtsmedizin anhören. Wer daran teilnehmen wollte, musste sich auf eine kleine innerstädtische Reise einstellen. Der theoretische Teil begann in der Hittorfstraße 18 in Dahlem, in einer Villa, die man dem Lehrstuhl für gerichtliche und soziale Medizin der Freien Universität Berlin überlassen hatte.

      Ein Doktor Klein begrüßte die rund zwanzig Zuhörer. «Ich heiße Sie in unseren heiligen Hallen herzlich willkommen! Die Gerichtsmedizin hat in Berlin eine lange Tradition. Gerichtsärztliche Tätigkeiten können wir bereits für das 17. Jahrhundert nachweisen. Später wurde das sogenannte Stadtphysicat gegründet. Die ersten forensisch-medizinischen Vorlesungen fanden ab 1724 am Collegium medico-chirurgicum statt. Besonderes Interesse fanden damals Schusswunden. Für die Charité wurde 1811 das erste Berliner Leichenschauhaus errichtet. Ein Neubau an der Hannoverschen Straße 6 wurde dann 1886 fertiggestellt. Hier befanden sich nicht nur das Institut für Staatsarzneikunde, sondern auch das polizeiliche Leichenschauhaus und das Leichenkommissariat. Da die Hannoversche Straße heute in Ost-Berlin liegt, führen wir West-Berliner Gerichtsmediziner gerichtlich angeordnete Leichenöffnungen vorzugsweise in der Pathologie des Krankenhauses Moabit durch. Im nächsten Jahr bekommen wir aber ein neues Polizeiliches Leichenschauhaus in der Invalidenstraße. Ich bitte Sie also, mit dem eigenen Ableben noch ein wenig zu warten, damit Sie es bei der Obduktion auch wirklich feudal haben. Ehe wir uns nun an den Obduktionstisch in Moabit begeben, schnell noch etwas über den Unterschied zwischen einem Pathologen und einem Gerichtsmediziner. Verwechseln Sie die beiden bloß nicht! Ein Gerichtsmediziner wird Ihnen das nie verzeihen. Der Pathologe arbeitet in einem Teilgebiet der Medizin, die sich mit krankhaften und abnormen Vorgängen und Zuständen im Körper sowie mit deren Ursachen beschäftigt, der Gerichtsmediziner beurteilt, auf welche Weise der Tod eines Menschen eingetreten ist, und untersucht hierfür den Körper auf äußere Anzeichen von Gewalteinwirkungen, prüft Organe oder Gefäße auf Veränderungen und analysiert auch Blut-, Haar-, Speichel- und Organproben.»

      Als Peter Kappe später den Sektionssaal im Krankenhaus Moabit betrat, wäre

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