Attentat auf Honecker und andere Besondere Vorkommnisse. Jan Eik
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Dabei klang schon der Kurztitel des Aktenpakets so ganz anders, als es die Gerüchte ein paar Jahre zuvor hätten erwarten lassen: „Todesursachenuntersuchung Paul Eßling – Bericht über den Abschluss der Untersuchung zum versuchten Mord an dem Angehörigen des MfS, Oberleutnant L., Rainer, am 31. 12. 1982 während seines Dienstes zur Absicherung einer Repräsentantenfahrt Ortslage Klosterfelde / Bernau und damit unmittelbar in Zusammenhang stehende Todesermittlungssache Eßling, Paul.“
Es ging also um einen „versuchten Mord“ an einem Stasi-Mitarbeiter. Und was war eigentlich eine „Repräsentantenfahrt“?
Letzteres lässt sich schnell klären. Die „Gleicheren unter den Gleichen“ im Arbeiter- und Bauernstaat wurden im SED-Kaderwelsch nicht Volksvertreter, sondern Repräsentanten genannt. Ließen sie sich irgendwohin bewegen, ganz egal, ob zum Staatsakt oder zum Freizeitvergnügen, war das eine Repräsentantenfahrt. Doch warum und wie sollte bei solch einer Kurzreise jemand ermordet werden, und wer war der darin verwickelte Repräsentant?
Eine Rekonstruktion. Der letzte Tag im Leben des Paul Eßling, ein Freitag, an dem, wenn überhaupt, nur bis mittags gearbeitet wurde, war ein trüber, schneeloser Wintertag. Am Vormittag hatte Paul seine Mutter aus ihrem Häuschen im Dorf abgeholt. Sie bereitete in der Küche des komfortablen Flachbaus am Wald, in dem ihr Sohn wohnte, das Mittagessen vor: Kartoffelsalat, wie der ihn liebte. Paul hatte seine Beziehungen zum Fleischer genutzt und dazu Filet besorgt. Sein 16-jähriger Sohn Ralf war unterdessen mit dem Moped ins Nachbardorf gefahren, um ein Stündchen auf seinem Pferd zu reiten, während der rastlose Meister selbst wie gewohnt in seinem weiträumigen Werkstatt- und Lagergebäude herumwerkelte.
Gegen 11.30 Uhr erschien Paul im Haus, um zu telefonieren. Dann verschwand er, ohne ein Wort zu sagen. Seine Mutter hörte den Wagen davonfahren. Sie wunderte sich nicht darüber, sie kannte ihren Sohn. Als der Enkel vom Reiten heimkehrte, trug sie das Essen auf.
Etwa zur selben Zeit setzten sich in der Liebermannstraße in Berlin-Weißensee zwei kräftige junge Männer um die dreißig in einen Volvo 164 E. Beide trugen die grünen Uniformen und weißen Mützen der Volkspolizei (VP). Vielleicht waren sie ein wenig sauer, ausgerechnet Silvester Dienst schieben zu müssen, aber als Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) waren sie militärische Disziplin gewohnt. Auch die Verkleidung war nichts Neues für die beiden. Sie versahen an diesem Tag den „Sicherungsdienst der Verkehrspolizei im Rahmen des Personenschutzes führender Repräsentanten von Partei und Regierung“. Ihr Dienstauftrag lautete, die Fahrt des Generalsekretärs der SED, Erich Honecker, von Wandlitz aus in Richtung Schorfheide zu begleiten. Der erste Mann im Staate wollte zum Jahresausklang noch ein bisschen seinem liebsten Hobby frönen, der Jagd.
Unter dem Kommando von Oberst Rudolf Knaut waren in der Abteilung 7 (Nahsicherung) der Hauptabteilung Personenschutz im MfS insgesamt 300 Mann ausschließlich für derartige Schutzaufgaben vorgesehen. Die beiden „Verkehrspolizisten“ gehörten zur Unterabteilung 2 (Personensicherung Honecker, Stoph und Sindermann).
Pünktlich um 13.00 Uhr schloss sich der Volvo am Tor der Waldsiedlung als „Nachläufer“ den beiden Citroën an, dem „Hauptwagen“ und dessen Begleitfahrzeug, dem „Kommandowagen“, der auch als Funkzentrale fungierte. In Wandlitz bog die kleine Kolonne auf die F 109 nach Norden ab, durchfuhr mit den üblichen neunzig Stundenkilometern den Ort, in dem laut Straßenverkehrsordnung wie überall in geschlossenen Ortschaften Tempo fünfzig erlaubt war, und näherte sich der nächsten Kreuzung. Von links, aus Richtung Stolzenhagen, kam ein dunkelgrüner Lada heran, hielt am Stoppschild kurz an und bog unmittelbar vor dem Hauptwagen auf die F 109 ein. Die „Sicherungsfahrt“ musste „sehr stark abbremsen“, wie in den Akten vermerkt wurde, dann überholten die beiden Citroën den Lada 1300 ohne Schwierigkeiten, während der Volvo hinter ihm blieb.
Möglicherweise warf der „führende Repräsentant“ in diesem Augenblick einen Blick auf den Fahrer des Autos, der verkrampft hinter seinem Lenkrad saß und vergeblich versuchte, das Tempo mitzuhalten. Für seine Personenschützer war alles in Ordnung, sie hatten die wichtigste Regel befolgt: Der Konvoi musste rollen und durfte sich durch keinen Zwischenfall aufhalten lassen. Trotzdem sollte auf die „Personifizierung und Abstrafung“ des Verkehrsrowdys im Lada nicht verzichtet werden. Seitdem am 14. September 1973 Georg Ewald, Politbüro-Kandidat und Landwirtschaftsminister in Thüringen, bei solch einer Kolonnenfahrt tödlich verunglückt war, herrschten strengste Bestimmungen für derlei Zwischenfälle.
So erhielt der Kommandant des Volvo, Oberleutnant Rainer L., ein ehemaliger Betonbauer, aus dem Kommandowagen per Funk die Anweisung, den Lada zu stoppen. Sein Kraftfahrer, Oberleutnant Horst H., schaltete Blaulicht und Sirene ein und versuchte, den Lada zu überholen. Der drängte nach links. Oberleutnant L. wies aus dem geöffneten Fenster mit dem schwarz-weißen Regulierstab unmissverständlich nach rechts.
Die beiden Citroën waren längst vorbei und weit voraus. Der Lada-Fahrer unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, schneller zu sein als die vermeintliche Polizei. Starren Blicks überholte er den Volvo rechts mit ungefähr neunzig Stundenkilometern.
„Der ist doch besoffen!“, sagte L. zu seinem Fahrer. Der setzte erneut zum Überholen an. Ein in Gegenrichtung fahrender Trabant schaffte es gerade noch, auf den unbefestigten Randstreifen auszuweichen.
Das ungleiche Wettrennen endete hinter den ersten Häusern von Klosterfelde. Ein entgegenkommender Lkw, der auf das Sondersignal hin hielt, versperrte die Hälfte der Fahrbahn und nahm dem Lada jede Fluchtmöglichkeit. Der Wagen kam anderthalb Meter hinter dem Volvo zum Stehen, in dem Horst H. mit laufendem Motor und eingelegtem Gang wartete, um einem eventuellen Auffahrunfall zu entgehen.
Rainer L. stieg aus und bedeutete dem Lkw-Fahrer, er könne weiterfahren. Dann ging er auf den Lada zu. „Was soll denn das hier werden?“, rief er. Er war sicher, es mit einem Betrunkenen zu tun zu haben. Immerhin war Silvester.
Der Lada-Fahrer, mittelgroß und mit einer schwarzen Lederjacke bekleidet, war ebenfalls ausgestiegen und stand hinter der Fahrertür seines Wagens.
High Noon auf der Straße der Roten Armee
12.00 Uhr mittags war seit gut einer Stunde vorbei, doch die sprichwörtliche High-Noon-Spannung lag in der Luft, als plötzlich das Unerwartete geschah: Der Mann aus dem Lada griff unter seiner Jacke zur Hüfte, zog eine Pistole und schoss.
L. spürte einen stechenden Schmerz in der linken Brusthälfte und wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Sein Kollege und Genosse Horst H., ausgebildet für alle Situationen, die beim „Schutz von Repräsentanten“ auftreten könnten, hielt im ersten Augenblick nicht für möglich, was sich da wenige Meter von ihm entfernt abspielte. Er zog seine 9-mm-Makarow und lud durch. Noch im Aussteigen begriffen und ohne über das Visier zu zielen, schoss er zweimal am Mittelholm des Volvo vorbei auf den Mann, der gebückt hinter der Lada-Tür stand und mit seiner Pistole hantierte. Die Türscheibe splitterte. Der Mann in der Lederjacke hob wiederum seine Waffe, in Kopfhöhe diesmal, zielte auf die eigene Schläfe und schoss ein zweites Mal. Dann brach er neben dem Hinterrad seines Autos zusammen.
Mit der Waffe in der Hand näherte sich Horst H. vorsichtig dem am Boden Liegenden und stieß dessen Pistole mit dem Fuß zur Seite. Erst als er sicher war, dass der Mann handlungsunfähig war, steckte er seine Makarow ein.
Inzwischen war Oberleutnant L. zum Dienstfahrzeug gewankt. „Das Schwein hat mit Platzmunition geschossen, das drückt!“, sagte er gepresst. Der Schmerz über dem Herzen verstärkte sich. Erst als er im Auto saß, entdeckte er das Blut auf seiner Uniform. Er setzte einen Funkspruch an die Zentrale ab und forderte einen Rettungswagen an.
Oberleutnant