Niccoló und die drei Schönen. Gunter Preuß
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Читать онлайн книгу Niccoló und die drei Schönen - Gunter Preuß страница 14
Aber da er nun schon einmal hier war, konnte er auch Balanca besuchen. Niccolò lief durch die Innenstadt und sah sich nach einer roten Kehrwalze um. Mit ihr hielt sein Großvater die Gassen und Straßen um den berühmten „Auerbachs Keller“ sauber.
Unter den Arkaden des „Alten Rathauses“ entdeckte Niccolò den Großvater in orangefarbenen Latzhosen, die geliebte schwarze Strickmütze auf dem Kopf. Balanca saß er auf einer Kehrwalze und steuerte sie durch eine sich öffnende Gasse von Fußgängern.
„Hallo!“, rief Niccolò. „Balanca!“
Der Großvater sah sich um, hielt das Fahrzeug an, sprang herunter, kam auf Niccolò zugerannt und fasste ihn derb an den Schultern.
„Niccolò“, sagte er, seine Stimme klang brüchig vor Schreck. „Nun rede doch, Junge.“
„Es ist nichts passiert“, sagte Niccolò schnell. Die beiden umarmten sich kurz und fest. Balanca legte Niccolò einen Arm um die Schultern, sie gingen zurück zur Kehrwalze. Der Großvater stellte den Motor ab, sie setzten sich auf das Fahrzeug und Balanca packte aus einem Beutel Thermoskanne und Brotbüchse aus. Er schenkte Kaffee in den Becher, teilte ein Wurstbrot, gab Niccolò eine Hälfte und biss selbst herzhaft in die andere.
Sie aßen und tranken, die vorüberhastenden Menschen streiften sie mit einem Blick, über manches Gesicht huschte ein Lächeln.
Von der Thomaskirche her hallten Glockentöne, als schritte da ein Riese in klingenden Stiefeln gemächlich durch die Stadt.
Niccolò kaute und sagte: „Ich wollte nur mal nach dir sehen.“
„Aha“, sagte Balanca. „Verstehe.“
Ein Polizeiautor fuhr mit Blaulicht und Sirene quer über den Marktplatz, dass die Tauben aufstoben. Die Glockenmänner auf dem „Krochhochhaus“ schlugen ihre Hämmer zur vollen Stunde gegen das Eisen. Unter den Arkaden, ein paar Meter von der Kehrwalze entfernt, spielte ein langbärtiger Alter in einem abgetragenen Uniformmantel auf dem Akkordeon und sang mit brüchigem Bass: „Ka-lin-ka, Ka-lin-ka ma-ja, fsa-du ja-go-da ma-lin-ka, ma-linka, ma-ja ...!“
„Eigentlich bin ich nicht nur so gekommen“, gestand Niccolò ein. „Eigentlich will ich dich was fragen.“
Balanca drängt Niccolò nicht. Er ließ sich selbst und allen anderen Zeit. Wenn ihm jemand was sagen wollte, dann würde er schon reden. Zuhören konnte er fast immer.
Niccolò schluckte den letzten Bissen hinunter, trank einen Schluck Kaffee nach, schüttelte sich gegen den bitteren Geschmack und sagte schließlich: „Was ist eigentlich Liebe, Balanca?“
Immerhin war sein Großvater dreimal verheiratet gewesen und sprach nur gut von „seinen Frauen“. Seit einem Jahr lebte er wieder in einer „stabilen Beziehung“. Die Frau war zwanzig Jahre jünger als er, sie war eine „Westliche“, die in Frankfurt am Main als Ingenieurin arbeitete. Sie hieß Dr. Wanda Mose-Kaatz, aber Balanca nannte sie „Lady Summertime“, und sie ihn „Mr. Weekend“. Wanda besuchte Balanca nur an den Wochenenden und in den Ferien, die beiden lachten viel zusammen und hatten sich immer etwas zu erzählen. Niccolò fand Wanda etwas zu rundlich, „handlich“ wie Balanca meinte, ihre Augen standen über der kleinen Nase weit auseinander, sie schniefte ein wenig beim Atmen und trank gern Bier. Je besser Niccolò sie kennen lernte, um so mehr mochte er sie. Sie war klug, ohne besserwisserisch zu sein. Vor allem aber strahlte sie mütterliche Geborgenheit aus, die Niccolò manchmal bei Manuela vermisste. Da musste er aufpassen, dass er nicht in den ständig schwelenden Konflikt zwischen seiner Mutter und Balancas Freundin geriet. Manuela meinte unverblümt, dass bei zwei Frauen in einem Haus in jedem Fall eine zu viel sei. In ihren eigenen vier Wänden bestimme immer noch sie, woher der Wind weht. Dazu brauche es keine „Frau Doktor“ und eine „Westliche“ schon gar nicht.
Balanca zeigte sich von Niccolòs Frage nicht überrascht. Und doch schob er seine Pudelmütze in die Stirn und wieder zurück, was anzeigte, dass die Antwort ihm nicht leicht fiel. Schließlich sagte er: „Das ist die Frage aller Fragen, Niccolò. Fragst du einen Menschen, kriegst du eine Antwort. Fragst du zehn, bekommst du zehn Antworten. Und wenn du tausend fragst, erfährst du tausend verschiedene Antworten.“
„Ich frage aber dich, Großvater.“
„Also, wenn du mich fragst“, begann Balanca umständlich und endete knapp: „Liebe ist das Schönste, was uns Menschen passieren kann.“
„Bist du dir da sicher?“
„Da bin ich mir ganz sicher.“
„Aber was ist sie denn – die Liebe? Ist sie wirklich eine – Krankheit?“
Balanca lachte, wieder schob er seine Mütze hin und her, bevor er sich zu einer Antwort entschließen konnte: „Als Zirkusmensch würde ich sagen: Liebe ist ein gewaltiger Hokuspokus, ein Zauber der Götter. Verstehst du, was ich meine?“ Er deutete zum Himmel und sagte: „Da hat doch der alte Herr da oben ein Verwirrspiel erfunden. Und wir Menschlein dürfen es aufführen, damit der liebe Gott auch was zu lachen hat.“
„So ist das also“, sagte Niccolò unzufrieden mit der Antwort. „Und das soll ich glauben?“
„Nun“, sagte Balanca und wiegte bedenklich den Kopf, „es ist wohl nicht ganz so. Aber wie es auch immer ist mit der Liebe, Kollege, glaub mir, ohne sie wäre das Leben wohl eine verdammt schlechte Erfindung.“
„Ich weiß ja nicht“, sagte Niccolò enttäuscht. Er hatte von seinem Großvater, der auf fast alle Fragen eine Antwort wusste, mehr erwartet.
Balanca nickte, und wie immer, wenn er eine seiner Zirkusgeschichten zum Besten gab, verfiel er in den Tonfall eines Märchenerzählers: „Ich will dir die Geschichte von dem Ballettmädchen Lisa Kowalke und dem Dompteur Fritz Müller erzählen.“
Niccolò zog die Knie zur Brust und legte seinen Kopf seitlich darauf. Um ihn herum schwatzte die Stadt, aus dem gleichmäßig tuckernden Motor der Kehrwalze kroch Wärme in ihn, und es roch gut nach Maschinenöl.
„Das Ballettmädchen Lisa Kowalke tanzte beim Zirkus Ballo. Mit zwölf anderen Mädchen führte es in den Umbaupausen den berühmten Cancan und andere Tänze auf. Die Tänzerinnen waren für das Sommerprogramm engagiert wurden, weil der niederländische Clown Ätsch wegen Krankheit die Tournee abgesagt hatte.
Als Höhepunkt des Programms war nach der großen Pause die Dressur eines Indischen Elefanten zu sehen. Der Dompteur, Fritz Müller, ein ehemaliger Bäckerlehrling, der vor seinem jähzornigen Vater zum Zirkus geflüchtet war, hatte sich diese Darbietung in jahrelanger harter Arbeit aufgebaut. Er nannte sich nach dem elefantenköpfigen indischen Gott Ganescha und sah in seinem Kostüm wie ein echter Maharadscha aus.
Aber Lisa Kowalke, die davon träumte, einmal im Operettenpalast zu singen und zu tanzen, war auch nicht ohne. Wenn sie geschminkt war, das Scheinwerferlicht über sie glitt und sie sich im Schwanenkostüm anmutig bewegte, sah sie aus wie eine Elfe.
Immer wieder zog es Lisa in die Nähe von Ganeschas Elefant Assan.