Niccoló und die drei Schönen. Gunter Preuß
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Nach dem Kopfstand fühlte Niccolò sich tatsächlich besser, wie Balanca vorausgesagt hatte. Er erledigte schnell die Schulaufgaben und setzte sich dann an Manuelas Computer, den die ganze Familie benutzte. Doch nur Niccolò kannte sich damit wirklich aus. Er musste sich nicht durch verwirrende Beschreibungen und Bedienungsanleitungen quälen, er probierte alles aus und merkte es sich dann.
Manuela fand sich „halbwegs“ in dem für ihr Brillengeschäft zugeschnittenen Arbeitsprogramm zurecht, das hieß: Sie arbeitete sich von einer Katastrophe in die andere. Nachdem sie dann vergeblich das Hilfeprogramm befragt hatte, trommelte sie mit den Fäusten auf den Monitor, beschimpfte das „hirnlose Aquarium“ wegen seiner „ungenießbaren Datensuppe“ und flehte ihren Sohn an, dem „Unding“ ein wenig Vernunft beizubringen. Niccolò brachte dann den Rechner wieder zur Räson. Erklärungen, wie er das hingekriegt hatte, verlangte Manuela schon lange nicht mehr.
Balanca benutzte den „außerirdischen Gehirnskasten“ ohnehin nur, um mit dem „Technik-Geist“ Schach zu spielen. Wenn er den unsichtbaren Gegner tatsächlich einmal besiegt hatte, sprang er vom Stuhl auf und rief: „Jetzt hab ich dich, Geist! Hast eben doch nur Chips in der Festplatte und bist längst nicht allwissend!“
Niccolò rief das Universallexikon auf und gab Liebe ein. Auf dem Bildschirm erschien: – ein Begriff, mit dem eine Vielfalt von Gefühlen der Zuneigung charakterisiert wird, die auf Vereinigung mit dem geliebten Objekt zielen. Er erfuhr noch, dass man die Eltern, die Freunde, seine Freiheit und wohl auch sein Meerschweinchen lieben kann. In der christlichen Religion galt Jesus als Vorbild der Liebe, der durch seine Menschenliebe erst die wahre Liebe ermöglichte.
„Ja, aber was ist denn nun die wahre Liebe?“, fragte er sich. War es vielleicht die personenbezogene Liebe zu einem Partner, die Sexualität mit einschließt? Er klickte auf Sexualität und bekam ein paar Seiten Text zu lesen, der ihn bald ermüdete. Sexualität hieß auf Deutsch Geschlechtlichkeit und bezeichnete laut Lexikonauskunft alle Vorgänge, die dazu dienen, eine geschlechtliche Fortpflanzung zu ermöglichen.
Die Angelegenheit wurde immer verzwickter. Niccolò überlegte: Also, müsste er, um Paula zu lieben, Sex mit ihr haben. Aber wollte er sich denn mit Paula Klette fortpflanzen? Er war ja selbst noch ein Kind, wenn er es auch immer öfter gegen Manuela bestritt. Und wenn Paula womöglich Achtlinge zur Welt brachte wie diese Frau aus den USA, dann wäre er, Niccolò Rosenbusch, der Vater von acht Kindern. Das wäre bestimmt eine Weltsensation. Manuela würde einen Schreikrampf kriegen.
Um die ungeheuerlichen Gedanken zu vertreiben, tippte er auf der Tastatur, was Frau Mandelstern, ihm auf den Zettel geschrieben hatte: Schalom, Niccolò. Es war ein hebräisches Wort und bedeutete: Friede über Niccolò. Er tippte sogleich: Schalom und Danke, Rebekka Mandelstern, druckte es aus und faltete das Blatt Papier zu einem Schiffchen, das er morgen im Lehrerzimmer in das Fach der Lehrerin stellen wollte.
Als drittes informierte er sich noch über Manuelas neuen Verehrer, den Haubentaucher, der trotz des Rauswurfs von neulich immer wieder einmal anrief und sich bei Niccolò nach Manuela erkundigte. Manchmal steckte auch zwischen Klinke und Hautür ein Geschenk: ein Buch über alte Brillenmodelle, eine CD Süditalienische Folklore und dazu ein weiße Rose. Manuela registrierte die Geschenke mit einem „Pah!“ und legte sie beiseite. „Was soll ich denn mit einer weißen Rose“, sagte sie kopfschüttelnd. „Will er mich beerdigen, oder was?“ Die Blumen vertrockneten in einer Vase am Küchenfenster. Niccolò tat der Mann allmählich leid, seine Hartnäckigkeit imponierte ihm.
Der Haubentaucher war eine Art der Lappentaucher, sehr gewandt tauchende, schlecht fliegende Vögel großer Binnengewässer, deren Zehen nicht mit durchgehenden Schwimmhäuten, sondern nur mit Hautlappen ausgerüstet sind.
Also, so ein Vogel war Freddy Haubentaucher. Tatsächlich war sein Kopf dem entengroßen Vogel mit seinem auffälligen Kopfputz und Backenbart recht ähnlich. Die wenigen dunklen Haare stoppelten und kreiselten wie von einem Windwirbel getrieben zum Hinterkopf. Von den Backen und vom Kinn wucherte ein rotbrauner Bart, der wie aus einem Kostümverleih wirkte. Ob Freddy auch Steißfüße hatte und was Niccolò sich darunter überhaupt vorstellen musste, war nicht herauszubekommen. Im Lexikon stand noch, dass der Bestand, seit dem er in Deutschland geschont wurde, wieder zugenommen hatte.
Niccolò verglich seine eigenen Schwierigkeiten mit Paula mit dem vergeblichen Werben des Haubentauchers um Manuela. Doch aufgeben kam nicht in Frage. Eine der alten Artistenregeln, die Balanca ihm beigebracht hatte, lautete: „Was auch passiert – The show must go on.“ Also, die Schau musste weitergehen.
Inzwischen war es Abend geworden. Am Computer verging eine Stunde, als wären es nur ein paar Minuten. Balanca war längst zum „Nachtdienst“ in seiner Kneipe Zum schiefen Affen. Manuela saß in der Wohnstube, sie las Zeitungen, schaute ab und zu auf die bunt flackernde Bildröhre und hörte Musik aus dem Radio. Ihre Unruhe ließ sie immer wieder unvermittelt aufspringen; dann klirrte Geschirr in der Küche, oder die Haustür fiel krachend ins Schloss, weil sie die Nachbarkatzen verscheucht hatte, die im Teich nach Goldfischen angelten.
Auch Niccolò kam nicht zur Ruhe. Einem plötzlichen Einfall folgend, rief er Carola Sanddorn an. Sie war auch gleich am Telefon. Mit ihrer schnippischen, sich manchmal überstolpernden Stimme sagte sie: „Hier ich. Wer dort?“
Niccolò wollte gleich wieder auflegen, denn Carola Sanddorns Überheblichkeit konnte selbst dem tapfersten Mann den Mut nehmen. Doch er sagte: „Niccolò. Hier ist Niccolò Rosenbusch. Wir gehen zusammen in eine Klasse.“
„Ja, meinst du, ich bin verkalkt oder gar debil, was für Unwissende übersetzt leicht schwachsinnig heißt“, sagte sie beleidigt. Carola Sanddorn war stolz auf ihren IQ, den Intelligenzquotienten also, dessen Mittelwert von 100 IQ sie bei weitem überschritt. Über einen Wert von 110 – 117 IQ, den nur 16,1 % der Bevölkerung zustande brachten, konnte sie nur müde lächeln. Sie erreichte, obwohl noch im Kindesalter, 125 IQ, die immerhin nur noch 6,7 % der Leute aufzuweisen hatten. Sie meinte, es sei nur noch eine Frage von ein paar Monaten, dass sie 130 IQ und mehr schaffen würde. Dann wollte sie beantragen, in den erlauchten Kreis der „Obereierköppe“, die sich im Club Mensa vereint hatten, aufgenommen zu werden. Als Zensuren kannte sie nur Einsen. Wenn ihr tatsächlich einmal eine Zwei passierte, waren sie und die Lehrer gleichermaßen schockiert. Ihre ganze Verwandtschaft bestand aus Ärzten. Ihr Vater war Kieferspezialist und die Mutter gar Professorin an der großstädtischen Herzklinik. Auch Carola wollte einmal Ärztin werden, am liebsten Chirurgin, weil ihr der Mensch, wie sie sagte „innen interessanter war als außen“ und sie nichts so faszinierend fand wie Blut. Sie sagte, die Sanddorns wären nun mal schon seit der Steinzeit zur Heilung anderer verpflichtet. Sie selbst aber würden durch ihr von Überarbeitung herrührendes Kettenrauchen an einem Lungenkarzinom noch vor der Rente sterben. Wenn Carola Sanddorn auch noch keine Ärztin war, so war sie doch schon eine heimliche Raucherin.
„Nein, nein“, beteuerte Niccolò hastig. „Du bist auf keinen Fall – debil.“
„Also, was liegt an, Mann? Oder gehörst du zu diesen Kriminellen, die einem mit ihrem Geschwätz nur die Zeit klauen oder sich damit selbst befriedigen?“
Wieder zuckte Niccolò zurück. Er sagte vorsichtig: „Ich wollte ja nur mal fragen, wie es denn so geht.“
„Na, dann frag doch.“
„Wie geht’s denn so?“
„Rundum