Mordgelüste in der Schlossklinik Buchenhain. Herbert Seibold
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Doktor Freund schaute stumm auf den Kommissar, der kurz die Augen geschlossen hatte.
„Fahren Sie fort, Herr Doktor. Sie haben recht, die äußeren ökonomischen Bedingungen in Krankenhäusern aber auch in der Wirtschaft sind psychologischen Einflüssen unterworfen, die manche Hirne ganz schön durcheinanderbringen können.“
„Oh, Herr Kommissar, Sie spielen doch nicht auf den Gentleman und Nobelpreisträger 2013 für Wirtschaft, Robert Shiller, an, der der Psyche der Banker beim Finanzgebaren eine große Bedeutung beimisst? Was mich betrifft – ich musste mich umstellen. Am schlimmsten fand ich eigentlich die Ansprüche der Angehörigen in diesem System, das zunehmend weniger Ressourcen bekam, immer weniger Zeit für Gespräche zuließ. Mein Gott, was werfen diese Leute dem Personal, bevorzugt dem Chefarzt, alles vor, wenn er auf Chefarztvisite kommt und gerade ein schwieriges differential-diagnostisches Problem zu lösen hat. Wie Kröten lauern die in den Sesseln. Die Suppe sei zu heiß oder zu kalt und nicht gesalzen. Wir haben unter Zeitdruck wirklich anderes zu tun, als all diesen Blödsinn anzuhören.“ Er bemerkte die leichte Ungeduld des Hauptkommissars, der auf seine Uhr schaute. „Ich komme gleich auf Ihre Frage zu sprechen. Immerhin haben wir jetzt unter Muniel eine positive ökonomische Entwicklung genommen. Wir stehen nicht mehr vor der Schließung. Das gibt auch uns Motivation, einander zu helfen. Zum Beispiel sind wir bezüglich der Hausdienste flexibel, tauschen auch Dienste, wenn nötig, und besprechen viel untereinander, nicht nur oder selten mit dem Chefarzt und Oberarzt bei der Morgenbesprechung. Ich finde, dass sich viel gebessert hat, seit nur noch deutsche Kolleginnen und Kollegen hier arbeiten. Halten Sie mich bitte nicht für nationalistisch.“
Joe unterbrach ihn: „Gibt es negative Beispiele von früher?“
„In der Tat, Herr Hauptkommissar, haben wir leider negative Erfahrungen mit Ukrainern und Weißrussen gemacht. Ein Kollege aus der Ukraine mit unterdurchschnittlichen medizinischen Kenntnissen ging oder wurde vor einem halben Jahr gegangen; zuvor wurde er oft zum Geschäftsführer gerufen. Dieser ukrainische Arzt war einfach trotz aller Hilfsbereitschaft seinerseits und auch unsererseits sichtlich ungeeignet, weil er keine Fortschritte machte, zu wenig lernfähig war und nach Monaten noch keine vernünftige Anamnese aufnehmen konnte. Die Visiten waren und blieben ein Graus. Man kam sich vor wie in der Hauptschule. Dabei war er so rührend. Mir brachte er zum Beispiel von der Kantine immer Plätzchen mit. Ich erinnere mich noch an dieses regelmäßige mittägliche Ritual: ‚Doktor Freund, Sie sehen aus so hungrig mit hohlen Augen. Warum nicht gegangen zum Mittagessen? Immer nur arbeiten der Doktor Freund!‘ Der Chefarzt wollte ihm noch etwas Zeit lassen und hatte sogar angefangen, die Entlassungsbriefe des Kollegen selbst zu diktieren. Schließlich riss dem Geschäftsführer Muniel der von Haus aus schon zu kurze Geduldsfaden. Zur Art und Weise der Entlassung kann ich nichts sagen. Aber der Kollege soll ziemlich wütend aus dem Haus gestürzt sein; offenbar ist er doch sehr gekränkt worden. Von hier aus ist er, wie man hörte, in die Ukraine gegangen, wo er ja herkam.“
Kommissar: „Wie hieß der Kollege?“
Freund: „Irgend etwas wie Cervinowich. Nein, das heißt ja ‚Hirschchen‘. Ein Platzhirsch war er nicht, unsere Schwestern waren eher kühl mit ihm, sondern – jetzt kommt es mir wieder – Cerebellinowitch oder so. Heimlich nannten wir ihn nämlich frei übersetzt ‚Kleinhirnchen‘; immerhin war er motorisch sehr geschickt und konnte so gut die Venen punktieren und Blut abnehmen wie keiner von uns, sodass wir ihn bei schwierigen Venenverhältnissen um Hilfe baten, während er bei der organisatorischen Stationsarbeit eher hilfebedürftig war.“
Tatsächlich dachte Oliver Freund mit gemischten Gefühlen an diesen Kollegen zurück. An ihn konnte er sich besonders gut erinnern, obwohl noch andere aus diesen osteuropäischen Ländern kurz hier arbeiteten und sei es auch nur als sogenannte Leihärzte.
„Auch in der Klinik gibt es also offenbar Symbiosen, nicht nur im Tier- und Pflanzenreich“, entfuhr es Joe offensichtlich amüsiert.
Olli Freund lachte und ergänzte: „Noch was! Dieser Kollege stellte die Genetik auf den Kopf: Igor Cerebellinowitch gab immer mit seinem angeblich eineiigen Zwillingsbruder an, der manuell nicht so geschickt sei, aber ‚weißt du, großer, großer Wissenschaftler in Molekulargenetik! Mein Bruder Alexander arbeitet und forscht bei Transplantationsteam an Universität in Kiew als wissenschaftlicher Angestellter.‘ Von wegen eineiig, dachte ich. Stattdessen nahm ich an, dass seine Mutter da einmal von einem Akademiker in der Uni beglückt wurde, als sie dort in der Kantine arbeitete.“
„Das ist ja interessant“, meint Joe, „weil möglicherweise Kooperationen unseres Transplantationszentrums der benachbarten Uniklinik Frankfurt mit Kiew bestehen könnten. Da können wir vielleicht etwas über beide Brüder herausfinden. Was mich wundert, ist, dass Sie das Betriebsklima fast rosig darstellen, wobei gerade mindestens drei Kollegen gekündigt haben sollen. Haben Sie denn auch gekündigt?“
„Nein, Herr Moser, ich habe ein Haus und eine Familie und werde schön hierbleiben.“
Hauptkommissar Moser schaute Herrn Doktor Freund ernst unter seinen buschigen Brauen an und meinte: „Herr Doktor Freund, danke für das Interview. Zur Beruhigung – wie ein Mörder sehen Sie wahrlich nicht aus.“
Freund lächelte: „Danke, höflich, Herr Kommissar, wer hätte das gedacht.“
Der Hauptkommissar notierte sich den Namen des ukrainischen Kollegen und bat über das Telefon die Klinikinformation, den Personalleiter die alte Personalakte suchen zu lassen.
Als Nächste kam die Assistenzärztin Frau Doktor Irma Seidler ins Besprechungszimmer. Sie blickte sichtlich nervös um sich. Normalerweise fanden in diesem Raum die Morgenbesprechungen mit dem Chefarzt statt. Joe begrüßte sie mit einem einladenden Lächeln, als er ihre Anspannung sah. Sie mochte Mitte dreißig sein, hatte glatte, lange, dunkelbraune Haare und ganz klare, merkwürdigerweise blaue Augen, die den Kommissar fragend, aber auch prüfend ansahen. „Entschuldigen Sie, in einer halben Stunde muss ich meine jüngste Tochter von der Schule abholen.“
Der Kommissar lächelte: „Kein Problem, wir machen schnell. Wie lange arbeiten Sie denn im Buchenhain, Frau Doktor?“
„Zwei Jahre. Seit meine beiden älteren Kinder in die Ganztagsschule gehen und mein Mann auf achtzig Prozent reduziert hat, konnte ich wieder in den Beruf zurückkehren. An Nachtdiensttagen kann mein Mann dann einen Tag zu Hause bleiben.“
Joe bewunderte Frauen, die die Doppelbelastung so toll organisierten. Im Laufe des Gesprächs fand er heraus: Frau Doktor Seidler war eine intelligente Frau von vierunddreißig Jahren, die trotz der etwas herben Gesichtszüge sehr sympathisch war, besonders wenn sie lächelte. Sie wirkte sportlich mit schnellen Bewegungen. Trotz der Nervosität waren ihre Bewegungen aber präzise. Lag es an einem eingebauten Ritardando der Handbewegungen? Spielte sie Geige?
Er bemerkte allerdings das Flackern ihrer Augenlider. Sie schluckte bei Fragen und wurde schnell rot. Nach seinen Profilerkenntnissen vermutete er eine Frau, die wahrscheinlich schlecht lügen konnte. Sie wirkte eher direkt und manchen Männern ein bisschen friesisch herb, obwohl sie Hessin war. Joe dachte an eine Vorlesung über Lügen und Sympathie vor zwei Monaten. „Angeblich wirken Menschen, die schon mal lügen, sympathisch, wenn man den Untersuchungen des Psychologen Professor Feldman über diesen paradoxen Sachverhalt glauben kann. Auch Altpräsident Clinton soll ja gerade wegen seiner Lügen keine Sympathieeinbußen erlitten haben – im Gegenteil – und später sogar als Vermittler in der Außenpolitik als besonders glaubwürdig gegolten haben.