Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer

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Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte - Tanja Langer

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warf die Zeitung auf den Boden und blätterte ungeduldig in einem Kunstband über August Macke. Sie suchte etwas. Wüsste sie nur, was. Rastlos überlegte sie, wohin sie als Nächstes gern reisen würde und welches Zimmer im Haus sie in den Farben Mackes streichen könnte. Als könnte sie damit gegen das seltsame Gefühl angehen, das sie seit einiger Zeit immer wieder befiel, sich zu schnell oder zu langsam durch das Leben zu bewegen. Sie betrachtete ihre Höhle, in der sie sich in letzter Zeit oft fortträumte oder sich einrollte und schlief.

      Die Wände des Zimmers waren in einem warmen Braunton gehalten, Schrank und Nachtschränke aus dunklem Holz, und über dem Bett schwebte ein Baldachin, den sie in einem satten Orange gefärbt hatte und an dessen Seiten rostrote Gaze in großzügigem Schwung herabhing, in der vermutlich Heerscharen von Staubmilben hausten und sich über sie lustig machten. Goldgemusterte, grüne und orange Kissen türmten sich am Kopfende, die Tagesdecke lag seit Tagen zerknüllt am Fußende. An den Wänden hingen neben dem mit Lebensratgebern, Romanen und Reiseführern vollgestopften Bücherregal asiatische Münzpuppen, die sie keineswegs aus Bali mitgebracht, sondern vom Flohmarkt am Siebzehnten Juni, und ein türkischer Kelim, den sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Die Nachttischlampen waren aus buntem Glas und für abendliches Lesen zu funzelig. Hinter dem Bett an der Wand hatte sie durchschimmernden Stoff aufgehängt, der den Zeltcharakter des Ganzen betonen sollte. Ja, ein Zelt für liebende Nomaden sollte dieses Bett sein, eine Insel in der Brandung des Gewöhnlichen, ein Ort des Rückzugs für erregte Begegnungen zwischen Mann und Frau, die sich immer wieder neu voller Lust und Zärtlichkeit entdeckten. Die aus diesem geheimnisvollen Raum der Seufzer und flüsternden Stimmen an die Oberfläche des Alltags auftauchten und mit strahlender Energie Schulbrote, Waschmaschinen, Steuererklärungen, Aldi-Einkäufe und Orchesterproben bewältigten.

      So etwa hatte sich Eva es jedenfalls gedacht, und allen Ernüchterungen zum Trotz konnte und wollte sie von dieser Hoffnung nicht lassen. Nach Ermutigung suchend sah sie zum Lüsterweibchen hinauf, das oben an der Decke schaukelte, eine alte Schiffsfigur in der Form eines beschwanzten Meerweibchens, dessen nackter Oberkörper zart geschnitzt war und dessen Augen sie unternehmungslustig anzublitzen schienen.

      Anka hatte ihr die Figur zum fünfunddreißigsten Geburtstag geschenkt, sie hatte sie in einem alten Trödelladen in Hamburg gefunden. Ihre Schwester Anka, die nur fünfzehn Monate nach Eva auf die Welt gekommen war, hatte zu dieser Zeit zwei Semester am Institut für Meeresbiologie in Hamburg Vorkehrungen zum Schutz bedrohter Meerestiere studiert, bevor sie sich in Tübingen mit der Bedeutung wasserreinigender Pflanzen für Rieselfelder in extrem trockenen Ländern befasste. Sie hatte sich mit neunzehn in den militanten Greenpeace-Aktivisten Leon verliebt und sich bei mehreren spektakulären Einsätzen mit ihm anketten lassen: vor das EU-Parlament in Brüssel gegen den Robbenfang, an das Eingangstor des neuen Reaktors in Wackersdorf, an das Geländer des Walfischbeckens im Kopenhagener Zoo, an eine Erdölstation in der Nordsee. Nachdem Leon sie eines Nachts im Schlaf mit Handschellen an sein Bett gekettet hatte, hatte sie ihn umgehend verlassen. Eine Serie von Paläontologen und Recyclingexperten war gefolgt. Anka zapfte ihr Wissen an, stellte das ihre nicht kleinlich zur Verfügung und beglückte sie mit ihrer unkomplizierten Körperlichkeit.

      Wenn sie sich verliebte und wenn es zu Ende ging, rief sie Eva an. Sie redete dann ohne Punkt und Komma. Wenn sie „Evachen“ ins Telefon flötete, wusste Eva, dass sich Ende und Anfang der Liebe unglücklich überschnitten und Anka bald mit ihrem Rucksack vor der Tür stehen würde. Anka fand es praktisch, bei den Männern zu wohnen. („Wozu soll ich eine eigene Wohnung haben, wenn wir die Nächte ohnehin zusammen verbringen? Für tagsüber brauche ich keine Wohnung, ich bin unterwegs!“) So ergaben sich hin und wieder obdachlose Übergangssituationen. (Sie zahlte übrigens immer einen Anteil an der Miete.) Eva freute sich. Sie liebte ihre kleine Schwester über alles, und auch Sina war begeistert von ihrer ulkigen Tante. Im Gegenzug konnte Anka Eva entlasten, sie hütete die Kinder, damit sie schnell und ohne die drei im Wagen oder auf dem Arm einkaufen konnte, sie bot Zubettgehbetreuung, wenn Stefan in der Oper war und Eva einmal zu Nora, Karl oder einem anderen Menschen wollte.

      Anka hatte ein Bett auf dem Dachboden. Sie hatten dort zwei Paar Lederschlittschuhe gefunden, die für die Kinder zu groß und den Schwestern zu klein waren, und einen alten Pappkoffer mit Spielzeug, von dem sie nicht so recht wussten, ob dies aus den Dreißigerjahren oder aus der DDR der Fünfzigerjahre zurückgeblieben war: ein Kochherd, Autos, ein aufziehbarer Blechfrosch. Sie hatten alles aufgehoben, und nur, wenn Anka kam, durften die Kinder dort oben spielen. Damit es etwas Besonderes blieb. In Ankas Abwesenheit betrat niemand diesen verstaubten Raum voller Spinnweben und Insektenleichen, und Eva putzte ihn erst, wenn ihre Schwester sich ankündigte. Anka hatte dort eine Kiste deponiert, in der sie ein paar wichtige Gegenstände ihres Lebens aufbewahrte: ihre ersten selbst gekauften Bergsteigerstiefel, ihr erstes Mikroskop, Pflanzen- und Tierbücher aus der Schulzeit, die Vogelbücher ihrer Mutter, Fotos von ihren Freunden, Briefe, Fahrkarten. Während Eva zum Ballettunterricht gehüpft war, hatte Anka es vorgezogen, mit Gummistiefeln durch den Schlamm zu waten. In dem Jahr, in dem Eva ihr Praktikum bei Sotheby’s in London absolvierte und lernte, Antiquitäten zu katalogisieren und zu archivieren (um später bei Frau Spoerli besonders gründlich Silber putzen zu können), studierte Anka die Endlichkeit der Ozeane und die Prognostik von Umweltkatastrophen.

      Du bist ein Wandervogel wie Mama, sagte Eva manchmal. Lass mich mit Mama in Frieden, sagte Anka, fort ist fort. Nur in seltenen Momenten, wenn es sehr spät war und sie alles durchhatten und sehr viel getrunken, flüsterten die beiden jungen Frauen miteinander über ihre Mutter, die so gern in den Wäldern umhergelaufen und eines Tages nicht mehr wiedergekommen war. Zwischen Weihnachten und Neujahr, Schnee war gefallen, getaut, gefallen. Anka war siebzehn, Eva kurz vor dem Abitur. Doch sonst wollte Anka vom Vogelweh ihrer Mutter nichts wissen, so wie Eva nicht über ihre Liebeswirren sprach.

      Eva nickte dem Lüsterweibchen zu. ‚No risk, no fun‘, seufzte sie und stand auf. Keiner ihrer Kollegen, keine ihrer Kolleginnen bei Spoerli würde sich so einrichten wie Eva. Bei ihnen waren Möbel, Vorhänge und Teppiche in einem einheitlichen, eleganten Stil gehalten; Biedermeier wurde bevorzugt. Eva war ohnehin eine Ausnahmeerscheinung in der Branche, in der die meisten dem eigenen Geschlechte zugetan und ohne Nachwuchs waren und sich daher gern und mit einer gewissen Milde in der Stimme nach Evas Kindern erkundigten. Eva war sich nicht sicher, ob diese Nachsicht ihr galt, die ihrem Fortpflanzungsdrang so offenkundig nachgab, oder ihnen selbst, die ihm auf immer entsagt hatten. Nur Frau Spoerli senior, die immerhin eine Tochter und diese auch in ihr Geschäft eingebunden hatte, lächelte manchmal melancholisch, wenn sie darüber sprach, dass sie nun wohl keine Enkel mehr bekommen würde. Ihre Tochter nämlich, über deren Entstehen wenig bekannt war, liebte Frauen.

      Die reinen leuchtenden Farben Mackes passten so wenig in Evas schummriges Schlafzimmer wie sie selbst an diesem Tag ins hell ausgeleuchtete Auktionshaus, in dem dreißig Kronleuchter blinkten und die übereinander ausgelegten Teppiche, die dicht an dicht gehängten Bilder, die Vitrinen mit dem Silber, den Gläsern und dem Porzellan, die Meisterstücke aus dem achtzehnten Jahrhundert, die Schreibkommoden und Sekretäre aus dem neunzehnten, die Schränke und Kommoden aus dem Süddeutschen, Norddeutschen und die filigranen Sitzmöbel aus Frankreich, so gut es ging, beleuchteten. Sie beleuchteten auch, leider etwas fahl, die Gesichter der Besucher, die sich an den Tagen vor der Auktion in den Ausstellungsräumen drängten. Sie ließen ihre Falten schärfer hervortreten und machten ihre Haare, die spärlicher wurden, einzeln sichtbar, darunter die weißliche, manchmal schuppige Kopfhaut, und sie zeigten jeden Fussel und jede abgewetzte Stelle an zu lange getragenen Jacken und Mützen. Tatsächlich kamen im Herbst und Winter, bis ins Frühjahr hinein, auffallend viele Mützenträger zu Spoerli. Es waren graue, noch häufiger aber karierte Sportmützen mit einem schmalen Schirm über der Stirn, die die Männer trugen, und oft passte der Stoff zu den ebenso auffallend häufig bevorzugten karierten Tweedjacken, unter denen nicht selten noch eine karierte Weste hervorlugte. Die jüngeren Männer kamen in Cordhosen und Rollkragenpullovern, im Sommer in offenen Hemden. Aber jetzt, Ende April, war es noch recht frisch.

      Recht frisch hatte Frau Fanny Schattenfroh, die langjährige, unentbehrliche, wenn auch zu Kapriziösem

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