Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer

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Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte - Tanja Langer

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sie denkt daran, dass ihr Vater damals schon eine Weile tot war und ihre Mutter gerade ihren zweiten Mann, Friedrich, geheiratet hatte. Ihre Mutter war Rundfunksprecherin. Eigentlich hatte sie Schauspielerin werden wollen; als Sibylle zur Welt kam, hatte sie ihre Ausbildung abgebrochen.

      „Ich habe immer nur ans Spielen gedacht, nie an die Position“, sagt Stefan. „Ich hatte keine Lust auf den ganzen Druck. Ich müsste mich die ganze Zeit behaupten, wenn ich der Erste wäre, müsste rechtfertigen, dass ich diesen Platz verdiene. Ich müsste noch mehr üben als jetzt. Ich hätte noch weniger Zeit für die Kinder, ich weiß nicht, ob ich das alles will.“

      Stefan reibt sich die Augen, die ganze Müdigkeit des Sich-Behauptenmüssens hinter der Brille, er nimmt sie ab.

      „Ich sehe dich jetzt ganz verschwommen“, sagt er, sieht ihr aber gerade in die Augen, mit einer Art Aufmerksamkeit jenseits des Sehens.

      Überraschend, ohne Brille hat er etwas Nacktes, Wehrloses für Sibylle. Erotisch, denkt sie, verletzlich, anziehend, weich. Sie kennt ihn mit Kontaktlinsen, aber das ist etwas anderes, wie er sich jetzt vor ihr verwandelt.

      „Manchmal ist es angenehm, die Dinge nicht zu genau wahrzunehmen, kennst du das?“ Er lächelt, dabei ist eine große Traurigkeit in den Falten um seinen Mund, etwas Hineingekratztes, das da nicht hingehört und doch irgendwie hineingeraten ist. Das sie mit einer kleinen Geste gern wegwischen würde. So und so.

      „Ja“, sagt sie leise, „wenn man alles immer ganz genau sieht –“

      Sie kichert, fährt sich mit der Hand an den Mund, jetzt hat sie ihn verraten, jetzt hat sie ihn tatsächlich verraten, ihren Ludwig, der nebenan ruhig atmet. Ob wohl Eva auch so eine begabte Schläferin ist? Stefan grinst. Er versteht die Anspielung, den Röntgenblick, die analytische Begabung Ludwigs. Er ahnt, wie viel ihm entgeht, wie viel er nicht mitkriegt, nicht mitkriegen will. Vom anderen weiß man es manchmal besser als von sich selbst.

      „Zu viel sehen“, sagt er und weiß plötzlich gar nicht mehr, von wem er da spricht, „kann manchmal heißen, gar nichts zu sehen, stimmt’s?“ Und er lacht, verhalten, irritiert.

      „Weißt du was“, sagt er und stützt die Arme auf dem Tisch ab, um sich hochzuschieben, „wir sollten jetzt besser schlafen gehen.“

      Sie stehen auf, jetzt beide, schieben leise die Stühle zurück. Pusten die Kerzen aus, Wachs schwappt aufs Wachstuch, bis auf eine, die nimmt er in die Hand.

      Sie stehen kurz beieinander, sehr dicht. Er nimmt ihre Körperwärme auf, sie seine, sie schließen die Augen, sehr kurz.

      Sie hat den Wind die ganze Zeit vergessen. Jetzt ist er wieder da, sie hört ihn klappern und heulen.

      Stefan hält die Kerze für den kurzen Weg zu den beiden Zimmern, zwei Schritte, drei, zu den Türen, ihr letztes Flackern wirft unruhige Figuren in den Raum, erlischt.

      2. KAPITEL

      Ohrensausen und Vergänglichkeit

      · 1 ·

      „Bist du allein?“

      „Ja.“

      „Bist du noch im Nachthemd?“

      „Ja.“

      „Ich liege noch im Bett, mmh.“

      „Ich mache mir gerade einen Kaffee.“

      „Ich denke an dich. Rate mal, was da passiert.“

      Eva hörte Karl am anderen Ende schnurren. Seine Stimme war schläfrig träge. Sie goss Wasser in die Kaffeekanne. Sie klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr und beschmierte ein Brot mit Butter. Sie war maulfaul. Karl stöhnte.

      „Kommst du heute Nachmittag? Ich will mit dir schlafen.“ Eva fiel das Telefon von der Schulter (wegen des Schmierens), sie fing es im Flug auf. „Ich muss jetzt Schluss machen, Karl, ich muss mich fertig machen.“ Sie biss ins Brot und drückte das Sieb herunter. Karl rief jeden Morgen an.

      „Kommst du?“

      „Ich weiß nicht.“

      Eva rechnete. Bis um drei würde sie im Auktionshaus arbeiten. Sie müsste sich etwas ausdenken, weshalb sie später nach Hause käme.

      „Ich könnte nur kurz, ich muss auch sehen, ob ich die Kinder unterbringen kann“, sagte sie und goss sich Kaffee ein.

      „Besser kurz als gar nicht“, säuselte Karl. „Mein Schwanz ist ganz hart.“

      „Du armer Mann“, sagte Eva. „Na gut, ich komme, so um halb vier.“

      Es hat Zeiten gegeben, dachte Eva, da hätte ich es nicht erwarten können. Da bin ich in meinem Leben herum wie ein Tiger im Käfig.

      · 2 ·

      Orizzonte, Meridiano, Giovanni Colombo. Sibylle betrachtete die Fotos der Schiffe im Hafen von Sciacca, die diese Namen trugen. Es war noch früh, aber mild, ein schöner Morgen Ende April. Sie musste erst am Nachmittag in die Praxis, ins hektische Neukölln, das ihr nach den Ferien hässlich und heruntergekommen erschien. Sie saß in ihrer neuen roten Jacke aus Sizilien auf der Bank vor der Apostel-Paulus-Kirche und wartete darauf, dass eines der Cafés öffnen würde. Sie hatte ihren rosa Schal ins Haar gebunden, weil es sich dann so anfühlte, als wäre es länger, und trug eine Sonnenbrille. In Neukölln genierte sie sich, wenn sie sich zurechtmachte. Hier nicht. Es war ein Stadtteil für alle.

      Sie sah von den Fotos auf. In den Straßen war nicht viel los. Auf dem Balkon des Hauses gegenüber saß eine Katze. Die Fenster waren leer, die Leute schliefen noch. Die Ozonschicht wurde dünner, die Arbeitslosigkeit nahm zu, nächste Woche würde Sibylles Mutter kommen und für Wirbel sorgen, doch hier schliefen die Dreißig- bis Vierzigjährigen am Morgen bis um zehn. Ab elf würden sie herauskommen und frühstücken gehen. Sie verdienten ihr Geld im Schlaf. Dachte Sibylle. Und erschrak: Ich sehe ja genauso aus!

      Sibylle schämte sich oft, wenn sie nichts Nützliches tat. Dafür gab es keinen Grund, sie arbeitete viel, von neun bis vier in der Praxis und abends zu Hause, wenn sie Abrechnungen machte, oder am Wochenende eine Fortbildung. Auf dem Heimweg holte sie die Kinder ab, die von acht bis nachmittags um fünf eine Ganztagsschule besuchten, kaufte mit ihnen zusammen ein und kümmerte sich um Familie und Haushalt. Ludwig kam meistens erst spät aus der Klinik.

      Die Einzigen, die hier am Morgen unterwegs waren, waren einige türkische Frauen mit Kopftuch. Sie gingen mit ihren Einkaufstaschen zu den Obst- und Gemüsegeschäften, um schwer beladen und leicht schwankend wieder nach Hause zu laufen und offenbar Unmengen von durchaus gesunden Speisen zuzubereiten. Sie hatten etwas Zeitloses, wie ihr Stadtteil. Unbeschadet von den Wirren der Zeit, immer in Mode und jenseits der Mode, jeden Wandel sanft verwandelnd: So war Schöneberg. Ludwig liebte es sehr. Er wollte auf keinen Fall wegziehen. Hier im alten Westen, zwischen den belebten Straßen mit den Bioläden und Kneipen, indischen und italienischen Restaurants, afrikanischen Bars, neuen Bagelläden und alten Dönerimbissen, fühlte er sich jung und zugehörig. Jederzeit konnte er losgehen, ins Gioccosa um die Ecke, auf einen Cappuccino, den die Kellnerin mit ihrem Piercing in der Unterlippe für ihn besonders breit „Kappuuutsch“ aussprach. Oder mit der Familie auf eine Pizza ins Gioia, gleich gegenüber, an warmen Sommerabenden. Sie konnten draußen sitzen; niemand störte sich an den Kindern; andere hatten auch welche.

      Manchmal

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