Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer

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Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte - Tanja Langer

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sah Sibylle verwundert an. Woher kam denn nun dieser rebellische Zug an ihr? Sie sah zu Stefan. Sie sah zu Ludwig. Ludwig stand schon, nahm leere Flaschen vom Tisch und floh in die Küche. Eva stand auf, raffte zwei letzte Gurkengläser und folgte ihm.

      „Lass doch“, sagte Sibylle, „Ludwig, lass doch. Renn doch nicht weg.“

      Eva war Ludwig direkt auf den Fersen. In der Küche legte sie ihm die Hand auf die Schulter.

      „Ludwig!“ Sie dachte, er würde platzen. Er drehte sich um, alle Spannung wich, er ließ die Schultern fallen, die Mundwinkel, das ganze Gesicht, alles, und sah sie traurig an.

      „Weißt du was“, sagte er, „sie hat recht. Und weißt du, was noch schlimmer ist: Ich leide darunter! Aber was soll ich denn tun? Verdammt noch mal, was soll ich tun?“

      Eva umarmte ihn wie ein Kind. Er liebte sie in diesem Moment, das fühlte sie, er liebte sie so, dass er sie fest an sich drückte.

      „Ist ja gut“, sagte sie, „ist ja gut. Du machst es, so gut du kannst, ich weiß das.“

      Eine Liebe, die sie teilte, der sie antwortete, in der Küche zwischen Töpfen, Salatschüsseln und ungespülten Tellern. Sie hätte am liebsten geheult. Sie wäre am liebsten selbst von ihm getröstet worden. Weil es eine vollkommen unkörperliche, und dabei den Körper vollkommen durchdringende Liebe war, eine Liebe, die keine Sprache finden konnte und die beide traf. Gab es womöglich auch eine körperliche Liebe, die nicht erotisch war oder nicht sexuell? Verwirrend war das, so oder so.

      Und oh, Ludwig hatte seine innere Auster schon wieder zugeklappt. Verflucht, diese Männer aber auch, vielleicht aber auch zum Glück, wer weiß, wer weiß das alles schon.

      „Los, komm“, sagte Eva und schniefte ein bisschen, wie es ihre Art war, „wir gehen jetzt zurück und machen uns einen lustigen Abend.“

      Warum eigentlich, dachte sie, warum sage ich das? Warum bleiben wir nicht einfach hier in der Küche und betrinken uns mit Schnaps?

      „Geh schon“, sagte Ludwig und kippte Essensreste von den Tellern in den Mülleimer, „ich komme gleich.“

      „Nicht gleich“, sagte Eva, „sofort!“

      „Nicht, was du denkst“, sagte Ludwig, „ich muss mal wohin.“

      „Erst mitkommen, dann pinkeln, los“, und Eva schubste ihn und drückte ihm die Nachtischschüssel in die Hand, und sie gingen zum Tisch zurück, als hätten sie etwas ausgefressen, sehr zum Vergnügen der anderen.

      „Hast du von dieser Untersuchung gelesen, nach der dreißig Prozent aller Kinder in Ehen außerehelich gezeugt wurden?“, fragte Sibylle gerade Stefan. Sie war ganz munter. Sie verteilte Teller für die Mousse au chocolat. Martina und Hartmut waren begeistert. Es war besser als Fernsehen. Gleich würde es Bekenntnisse hageln.

      „Was?“

      „So viele?“

      „Nein!“

      „Doch!“

      Nein, nein, doch keine Bekenntnisse, völlige Fehleinschätzung, alles vorbeigeflogen, wäre ja noch schöner. Sie sahen sich alle an und fingen an zu lachen. Die Klippe war genommen, die Situation gerettet oder wie man sonst noch sagen könnte, obwohl es eigentlich hübsch wäre, mal was anderes, so eine kleine Eskalation, aber gut, man wollte sich doch einmal erholen und amüsieren und überhaupt, das war doch alles gar nicht wirklich. Und na!, rief Eva, wenigstens sehen unsere Kinder Ludwig und Stefan ähnlich, und der Abend wurde lustig, weil die Männer lieber Witze machten und Komplimente, als sich allzusehr auf den Gedanken einzulassen, dass paternitas semper incerta, oder Vaterschaft nur eine legale Fiktion, und dass es vielleicht gut sein könnte, die ganze Fortpflanzerei abzukoppeln vom Natürlichen, unter Kontrolle zu bringen in Gläsern und Labors und künstlichen Gebärmüttern. Und die gleichzeitig erschraken und es doch nicht wollten, nein, nein, um keinen Preis, denn sie liebten ihre Mütter, ihre Wärme, ihre Kälte, ihre Haut und ihren Duft, und allem zum Trotz und überhaupt eben doch und vielleicht sogar ihre Frauen. Und die Frauen wollten nicht, dass ihre Männer zweifelten und traurig würden ob ihrer schrumpfenden und trotz allen Vorsitzen und leitenden Posten womöglich fraglichen gesellschaftlichen Bedeutung und ihre Lust verlören an allem und ihnen, zumal und weil sie selber Angst hatten vor dem, was sie sein könnten, wenn sie einmal zupacken würden und die Augen aufsperren und hören, was in ihren Ohren klang wie der Gesang vergessener Sirenen, und ein richtiger Kampf beginnen würde mit den Männern, und zwar nicht über die Einteilung des Haushaltsgeldes und wohin sie in die Ferien fahren würden und wer sich wie viel Stunden um die Kinder zu kümmern hätte und wessen Arbeit wichtiger wäre und überhaupt, sondern um etwas ganz anderes, richtig Großes, Verwirrendes und Unbekanntes. Und Eva sah Stefan an, und Stefan trank noch ein Glas und noch eins, du lieber Himmel, wie würde sie den nur nach Hause kriegen, am besten, sie übernachteten hier, und er fing an zu erzählen, redete und redete, über Opernregisseure und Dirigenten und Diven, ihre Eigenheiten und die Kostüme, die er bei der Vorstellung nur sehen konnte, wenn sie an den vorderen Rand der Bühne kamen, und die er sich sonst vorstellen musste, wenn er gerade mal nicht spielte, sondern auf dem Blatt die Noten mitlas oder sich hinreißen ließ, mit der Bassklarinette Ernst zu scherzen, der so gern Vorträge hielt, wie erst kürzlich über Heimlichkeiten, und Sibylle lachte und Martina lachte und Hartmut lächelte Eva an und entpuppte sich als freundlicher Kerl und Eva sah Ludwig an und Ludwig Eva und Stefan redete und drehte sich und dehnte sich und lachte auch, und keiner konnte sagen, ob er es nun merkte oder nicht, dass Sibylle ihm die ganze Zeit ganz besonders schöne Augen machte, die sich ihrerseits vollkommen sicher war, er erzählte all dies nur für sie.

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