Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer
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„Nicht so laut“, sagte Eva, „Papa schläft.“
„Blöde Kuhen“, schrie Lucie (sie sagte Kuhen statt Kühe, sie liebte dieses Wort). Lucie stand auf dem Stuhl und schrie die andern beiden an. Sie hatte nur ein Hemdchen an. Eva setzte Wasser auf, ging die Treppe wieder hoch und holte Unterhosen, Strumpfhosen und ein T-Shirt für Lucie.
Aber Lucie wollte keine Unterhose anziehen. Eva deckte den Frühstückstisch und hielt ihr jedes Mal, wenn sie an ihr vorbeikam, ein anderes Exemplar vor die Nase.
„Die mit der Naht mag ich nicht!“, sagte Lucie. Eva zeigte ihr eine andere.
„Die ist zu eng! Die gehört Sina! Die hat doofe Blümchen!“
„Jetzt hab ich aber genug“, sagte Eva, „dann bleibst du eben nackt. Ich muss jetzt etwas essen, ich muss heute arbeiten.“
Eva brachte heiße Milch und Kakao und schmierte Brote für die Kinder. Zwischendurch nahm sie einen Schluck aus ihrer Tasse. Sina und David erläuterten ihr mit immer hitziger werdenden Stimmen den Verlauf ihres Streites.
„Ich hatte die grüne Platte zuerst“, sagte David.
„So“, sagte Sina spitz, „wie kommt es dann, dass sie auf dem Boden lag, ganz allein, als ich sie fand?“
David hasste Sinas Ironie, er verstand sie nicht.
„Ich hatte sie zuerst“, schrie er.
„Blöder Kerl!“ Sina warf ihr Marmeladenbrot nach David. Eva schlug auf den Tisch. „Sina!“, brüllte sie. „Es reicht!“
David heulte, stürzte zu Eva, die gerade noch die Tasse absetzen konnte, und krallte sich an ihr fest.
„O nein, bitte nicht!“
Evas Strumpfhose riss.
„Scheiße!“
Stefan tauchte auf.
„Morgen.“
Eva schubste David fort, küsste Stefan flüchtig auf die Wange, „Morgen“, und rannte an ihm vorbei in den Keller, um eine schmutzige Strumpfhose aus dem Wäschekorb herauszusuchen. Nora rief an, hörte das Geschrei und wurde von Stefan vertröstet. Eva kam wieder hoch, mit rotem Gesicht.
„Scheiße“, sagte sie, „ich muss in zwanzig Minuten los.“
„Das sagt man aber nicht“, sagte Sina. Sie zog einen Schmollmund.
Evas Vater rief an und wollte mit Elke (seiner Lebensgefährtin) zum Abendessen kommen; auch er wurde vertröstet.
„Dein Vater sagt dir einen schönen Gruß“, sagte Stefan, „früher hättest du immer gemeckert, dass er keine Zeit für die Familie hat, und jetzt, wo er sie anbietet, willst du gar nichts mehr davon wissen.“
„Alles zu seiner Zeit“, knurrte Eva. „Er denkt immer, jetzt ruf ich, dann hüpfen alle. Blöder Kerl.“ In Wirklichkeit bedauerte sie es; sie freute sich, wenn ihr Vater vorschlug, zu ihnen zu kommen.
„Das sagt man aber nicht“, sagte David.
Stefan blieb die Ruhe in Person; er stieg über Spielsachen, den schlafenden Kater und Wäschekörbe; er trug Eva den Kaffee hinterher und beruhigte David, den er auf dem Arm hielt. Der Kater, den alle Katerchen nannten, schlief am liebsten mitten im Weg, je lauter es war, um so tiefer schien er zu schlafen. Es beruhigte ihn, wenn alle da waren. Die Katze hingegen, Madame Butterfly, saß beleidigt auf dem Fensterbrett und sah hinaus.
„Ich habe Hunger“, sagte Lucie, die inzwischen mit noch immer nacktem Popo auf dem Stuhl saß, „ich will kalten Kakao.“
„Och, Lucie“, sagte Eva, „jetzt habe ich die Milch extra heiß gemacht.“
„Warme Milch riecht komisch.“
Lucie brummte. Stefan summte. Lucie summte mit. Lucie sang viel. Sie saß oft vor dem Radio und sang mit. Eva musste ihr zeigen, wie der Schallplattenspieler und der CD-Player funktionierten. Lucie legte sich Musik auf (am liebsten Mozart) und tanzte dazu. Sie konnte stundenlang zuhören und tanzen.
„Was habt ihr probiert?“, fragte Eva, während sie ihre Strumpfhose anzog.
„Wiederaufnahme ‚La Bohème‘.“
„Wie schön!“
‚La Bohème‘ war eine von Evas Lieblingsopern. Sie musste jedes Mal heulen. Sie fing damit an, wenn Mimi Marcel ansang „Wir sind uns fremd“ und hörte nicht mehr damit auf, bis Mimi starb und der Vorhang fiel. Es war so furchtbar. Jedes Mal.
„Es gibt so vieles, was ich dir möcht sagen“, sang Eva. Lucie klatschte.
„Wie war’s?“
Sie schnürte ihre Stiefeletten und küsste Lucie, die ihren warmen Kakao brav getrunken hatte und ihr jetzt helfen wollte. Sie hielt ihr das Brot hin, damit Eva abbeißen sollte.
„Gut. Herr Liang war bester Laune. Er hat sich mal wieder mit Rohrhammer angelegt. Diesis ist kaine Pohobbe fühü die Bühüne, diesis ist aine Pohobbe fühü das Oochesta“, machte Stefan Herrn Liangs Akzent nach. Er mochte die vielen Dialekte und Sprachen im Haus, und er mochte Herrn Liang. Rohrhammer war der langjährige Regieassistent des Hauses. Er stritt mit fast jedem Regisseur. Er drohte bei jedem Streit zu gehen, machte eine Kurve durch den Publikumsraum und kam zurück zur Bühne.
Eva kicherte, die Kinder freuten sich. In ihrer Vorstellung arbeitete Papa in einem großen Haus mit niedrigen Gängen und dicken Rohren, aus denen Musik quoll.
„Verdammt“, sagte Eva, „ich muss los!“
Sie küsste alle am Tisch, warf einen Blick auf das Durcheinander im Raum und ging. Sie wusste, es würde genauso aussehen, vielmehr schlimmer, wenn sie nach Hause käme; aber die Kinder würden mit Stefan einen wunderbaren Tag erleben. Sie seufzte tief, hörte Stefan und die Kinder ‚O Himmel‘ singen und verließ das Haus, mit dem Brot in der Hand. Draußen roch es nach Frühling, das Gelb der Forsythien leuchtete.
Eine Dreiviertelstunde später betrat Eva in der Stadt das Auktionshaus, als ginge sie nun ihrerseits zu einer Opernpremiere. So viele Auktionen sie schon erlebt hatte, so aufgeregt war sie jedes Mal aufs Neue. Sie trug ihr wirres Haar fest zusammengebunden und hochgesteckt, eine Minute der Konzentration im Rückspiegel ihres alten grauen Volvo („eine fahrende Müllhalde“, hatte Sibylle einmal zu Ludwig gesagt), zu einem grauen Kostüm, dessen Jacke kleine Schößchen bildete. Frau Spoerli senior kam frisch vom Friseur; ihr weißes Haar war hoch aufgetürmt; an ihrem faltigen Hals prangte eine Kette mit böhmischen Granaten. Nicht so kleine Steine waren dies wie an der Kette, die Eva von ihrer Großmutter hatte, sondern dicke Rosetten reihten sich aneinander. Sie war eine Respekt einflößende, elegante Erscheinung mit ihren preußisch geformten achtzig Jahren.
Das Auktionshaus füllte