Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte - Tanja Langer страница 8

Автор:
Серия:
Издательство:
Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte - Tanja Langer

Скачать книгу

die Zitronen riechen!“, rief Sina. „Hier, Papa, riech mal! Und wie dick die sind!“

      Die neunjährige Sina hielt Stefan eine dicke Zitrone hin. Sie hatte seine dunklen, etwas tief liegenden Augen, und seinen vollen roten Mund, sie gab sich manchmal verschlossen wie er (was Eva aufregte), und sie himmelte ihn an. Stefan roch an der Frucht und rief: „Toll!“ Er vergötterte Sina, seine Älteste, sein erstes Kind, in das er sich verliebt hatte von Anfang an.

      Stefan hatte mit allen fünf Kindern das Grundstück der Signora verlassen. Überall hingen reife Zitronen und Orangen an den Bäumen. Sie waren Trampelpfaden gefolgt, vorbei an den Zäunen der benachbarten Häuser, die sich hinter hohen Azaleenbüschen verbargen. Sie hatten Gehege mit Gänsen, Ziegen und einem Esel gefunden und waren von einem Hund verjagt worden. Die Kinder rannten umher, kletterten auf Mäuerchen am Rand der Haine, sprangen hinter die Bäume, sammelten Steine und Stöckchen, spielten mit Stefan Verstecken und waren von allem begeistert. Stefan blieb immer wieder stehen und sah zum Meer hinunter oder in die Berge hinauf. Er sog die würzigen Gerüche ein, Pinien, Olivenbäume, Zitrusfrüchte.

      Nett hier, dachte er. Im Kopf hörte er Mozarts Klarinettenkonzert. Obwohl es zu den meistgespielten Stücken gehörte, liebte er es. Er mochte die Intervallsprünge, die Anordnung der Dreiklangfiguren. Die Melodie, die so einfach und komplex war, dass er jedes Mal vor Bewunderung aus dem Häuschen geriet, wenn er sie hörte oder spielte. Er sah auf die weich geschwungenen Hügel, das dunkle Grün der hohen Zedern, das hellere Grün der Olivenhaine, das Ocker der Felder, das letzte Graublau des Meeres, Flächen, wie von einem Maler rhythmisch aneinandergefügt.

      Stefan fing an zu pfeifen. Hier gehört das Konzert hin, dachte er, hier auf einen der Hügel. Wie die Hügel die Wellenbewegung des leuchtenden Meeres aufnahmen! Er folgte den Linien, mit einer großen Bewegung des Armes drehte er sich langsam um sich selbst. Hier die chromatischen Läufe, dachte er, damdadada, und hier der Dialog der Klarinette mit der ersten Violine, dadadadaa! Stefan fiel die Reihe ungleicher Zypressen ins Auge, die die Plantage der Signora schützte. Wie eigenwillig sie vor den Hügeln in den Himmel ragten! Wie sie sich im Winde bogen, ohne zu brechen! Eva hatte recht, hier war es schöner als bei dem fiesen Alten auf dem kalten Berg. Darin verstehen wir uns, dachte Stefan, wir mögen dieselben Landschaften. Eintönige Weiten schrecken uns. Immer aufgeregter war sie geworden, als sie sich im Auto dem Meer genähert hatten. Zypressen werden für Särge benutzt, hatte Eva erzählt, und Schiffsmöbel, weil sie so dauerhaft sind, und ihr Duft ist heilsam, und wie sie duften! Sina hatte ihm im Rückspiegel zugezwinkert und mit den Augen gerollt, Mama wieder, und Eva hatte gerufen: Ein ganzes Orchester hast du da, mit Dicken und Dünnen! Der lange Hagestolz da, der ist wie euer Cellist, und die da … Und sie alle hatten gelacht.

      Stefan hörte die Stimmen der Kinder zwischen den Bäumen und die der Klarinette in seinem Kopf, wie sie jetzt im Adagio den Aufschwung zur Phrase nahm, babababa, und die Streicher antworteten, und weiter kletterte ihr Gesang in die Höhe, erhob sich, um erneut in das Tutti der Streicher hinabzutauchen. So lieblich war diese Musik, liebenswürdig geradezu, wie die Landschaft, die ihn umgab. Wie nah sie beieinanderlagen, das Schöne und der Tod! Mozart hatte das Konzert in A-Dur zur selben Zeit geschrieben wie sein Requiem, keine zwei Monate, bevor er starb. Stefan machte dieser Gedanke nicht traurig, im Gegenteil, er nahm die Dinge, wie sie kamen, und er liebte ihre Vielfalt.

      · 3 ·

      Am Abend aßen die Kinder schnell ihre Nudeln, die Augen fielen ihnen zu. Die Erwachsenen brachten sie ins Bett, setzten sich in die Küche, aßen Fisch und Salat und tranken Wein.

      „Habe ich euch eigentlich schon mal von meinem Optiker erzählt?“, fragte Sibylle.

      „Der mit dem Verhältnis?“, fragte Eva freudig.

      „Genau.“

      „Hast du. Gibt’s denn was Neues?“

      „Naja. Seine Frau hat es rausgekriegt.“

      „Auweia.“

      „Sie kommt auch zu mir, schon seit Jahren, und jetzt kam sie, angeblich wegen Schwindelanfällen. Die Schwindelanfälle waren aber nur ein Vorwand. Eigentlich wollte sie sich bei mir ausweinen.“

      „Und die Geliebte“, fragte Eva, „die kommt doch auch zu dir, oder?“

      „Alle kommen zu mir!“ Die beiden Paare lachten.

      „Dann weißt du es ja von allen Seiten“, sagte Stefan. „Das ist bestimmt interessant.“

      „Vor allem, wenn du sie siehst. Das traust du denen gar nicht zu. Sie ist eine ganz biedere Frau, immer in geraden Röcken und Strickjacke, mit so einem komischen hellblauen Regenmantel mit Goldknöpfen. Sie hat einen kleinen Schreibwarenladen.“

      „Und er?“, fragte Eva.

      „Soll ich noch eine Flasche aufmachen?“ Ludwig war schon aufgestanden.

      „Er wirkt auch eher konventionell.“

      „Das tut offenbar nichts zur Sache.“

      Ludwig machte das Licht aus, nur die Kerzen auf dem Tisch und auf der Anrichte leuchteten. Alle hatten von der Sonne gereizte Gesichter.

      „Ich sehe sie in ihrem hellblauen Regenmantel zum Hermannplatz hinuntergehen“, begann Eva. „Sie geht die Straße hinab, vorbei an den Dönerläden, den Ramschläden, den Supermärkten. Sie hält den Mantel mit ihren Händen zu. Niemand würde vermuten, dass sie darunter nackt ist. Sie ist fünfzig Jahre alt, hat getöntes, gewelltes Kurzhaar, trägt sonst gerade Röcke und Strickjacken. Sie wirkt älter als diese intellektuellen Fünfzigjährigen, für die die Zeit stehen zu bleiben scheint. Viele Leute kommen in ihr Schreibwarengeschäft. Sie eilt die Straße entlang, als habe sie etwas einzukaufen, in der Mittagspause. Niemand achtet auf sie, der eine oder andere Kunde grüßt sie, mit den Augenbrauen, die in die Höhe gezogen werden, einem Nicken. Ihr Herz rast, auch nach einem Jahr, nach zwei Jahren. Sie kennt den Hintereingang, die Höfe, die sie durchqueren muss. Sie kann schließlich nicht jeden zweiten oder dritten Tag vorn zum Optiker hineinspazieren.“

      Eva trank einen Schluck, die anderen sahen sie gespannt an.

      „Sie sind beide verheiratet, seit Langem schon. Die Ehen sind nicht schlecht. So ist es. Sie kannten sich schon länger, als es anfing. Sie kam, weil sie eine Brille brauchte. Er sah ihr in die hellen Augen. Die Augen, ein wenig müde zunächst, wurden lebendig. Ein bisschen schüchtern am Anfang. Sie musste ihn ansehen, bei jeder Brille, die er ihr aufsetzte. Sie spürte seine trockenen Hände, er spürte ihr weiches Haar. Sie roch sein Aftershave, er ihren Geruch, das viele Papier, Sandelholz und etwas wie süße Marmelade. Sein Haar war ungepflegt im Nacken; er ließ es schneiden. Er besorgte Briefpapier bei ihr; sie holte die neue Brille. Sie kam wieder, nach zwei Tagen, bat ihn, den Bügel fester zu stellen. Er kaufte ein Stempelkissen und Büroklammern; sie benötigte ein Tuch zum Polieren der Brille. Er kaufte Filzstifte zum Auszeichnen der Ware; und ihr fiel nichts mehr ein. Sie legte die Brille mehrmals so zur Seite, dass sie hätte herunterfallen können. Ein Kunde hätte etwas darauf ablegen und sie zerbrechen können; nichts geschah. Eines Tages rannte sie ihn fast um, als sie mittags vom Bäcker kam. Er sah sie an, sie ihn, und sie gingen über Hinterhöfe in seinen über Mittag geschlossenen Laden. Hinten hatte er einen Ruheraum, mit einem alten, mit Cord bezogenen Sofa. Sie küssten sich. Sehr lang. Sie musste gehen, es war kurz vor halb drei. Sie fand den Weg am nächsten Tag allein. Und so ging es weiter. Er kannte jede Hautfalte von ihr, und sie wusste jede von ihm.“

      Alle schwiegen in den Raum hinein. Eva, dachten sie, oder auch nicht, was rührst du nur an diese Sachen.

      Denn

Скачать книгу