Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer

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Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte - Tanja Langer

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nein“, sagte Eva, als hätte sie seine Gedanken gelesen, „ich dachte nur gerade, wie komisch wir beide sind.“

      „Komisch?“ Er wurde wütend, sein Nacken verspannte sich.

      „Weil wir uns immer zanken müssen, wie zwei Kinder.“ Eva sagte es freundlich.

      Du legst das Kind in mir frei, dachte Ludwig und erschrak. Wie kam er dazu, solche Sätze zu denken? Sie hatte ihn auf seine Kindheit schon direkt angesprochen. Aber seine Großeltern waren gestorben, und mit den Eltern hatte er gebrochen. Warum, hatte Eva gefragt. Wegen Geld, hatte er geantwortet, war aufgestanden, ich nehme mir jetzt mal den tropfenden Wasserhahn vor, und im Bad verschwunden.

      „Ich helf dir und du hilfst mir, was hältst du davon?“, sagte Ludwig schließlich.

      „Komm, gib mal her.“

      Eva überließ ihm das Feuerzeug. Er drehte die Gasflasche zu, wieder auf, ließ den Zünder ein paar Mal anspringen, bis er die Flamme des Feuerzeugs annahm. Die Flamme verteilte sich über die sichtbare Fläche des Brenners, glimmte hinter dem Metallgitter violett auf.

      „Es sieht schön aus, findest du nicht?“

      „Ja“, sagte Ludwig. „Es ist schön, dass du immer auf die schönen Dinge aufmerksam machst.“

      Der Ofen brannte gleichmäßig.

      „Schön, schön, dann machen wir jetzt mal ein schönes Essen, ja?“

      Ludwig entkorkte eine Flasche Rotwein.

      „Komm“, sagte er, „wir trinken einen Schluck.“

      Sie kicherten, und dann standen sie nebeneinander und schnippelten das Gemüse, froh, diese Klippe genommen zu haben. Auch wenn beide das Gefühl hatten, etwas unter den Teppich zu kehren, von dem sie nicht einmal hätten sagen können, was es eigentlich war.

      Als Sibylle aufwachte, war es still. Beim Einschlafen hatte sie Ludwig und Eva nebenan klappern hören. Sie zog eine bequeme Hose und einen Pullover an und ging über die Terrasse in die Küche. Draußen duftete es nach Zitronen und Orangen, irgendwo unter den Bäumen hörte sie die Stimmen der Kinder. In der Küche war niemand, für das Abendessen stand alles bereit. Sibylle kochte Tee und freute sich: über das alte Büfett, den Wasserhahn aus Bronze, das tiefe viereckige Waschbecken aus weißer Keramik, die Steine, die als Arbeitsfläche dienten, die Kacheln. Dinge konnten sie glücklich machen, und wie so oft hatte sie den Wunsch, sie mit nach Hause zu nehmen und dort alles genauso zu gestalten wie in den Häusern, in denen sie leihweise wohnten.

      Sie setzte sich an den Tisch und genoss es, einen Moment für sich zu haben. Sie war erschöpft. Von der Sonne, die brannte, von den Wolken, die Kälte mit sich brachten. Vom An- und Ausziehen der Jacken, von den bellenden Winden. Mit einem Mal war sie müde von ihrem ganzen Leben. Sie wollte gerade den Kopf auf den Tisch legen und ein bisschen heulen, als die Kinder hereinpolterten. Sie schrak hoch. Die Kinder wollten nur ein paar Kekse, dann rannten sie wieder fort.

      Sibylle sah hinaus auf die Terrasse. Das letzte Sonnenlicht fiel auf den Holztisch mit den Zitronen, den Korb mit den Mandeln, den Stein, mit dem man die Mandeln aufschlagen konnte. Sie hatte am Morgen einige probiert. Die Mandeln schmeckten frisch, hinterließen aber ein beißendes Kribbeln auf Zunge und Gaumen, das bis zur Kopfhaut hinaufzog wie die Sehnsucht danach, allein zu leben.

      Im Alltag hatte Sibylle kaum Zeit zum Nachdenken. Immer musste sie ihre Aufmerksamkeit auf die Patienten richten, die Kinder, Ludwig, und oft hatte sie kein Gefühl mehr für sich selbst. Die Tage waren angefüllt mit den Geschichten anderer. Manchmal diskutierte sie abends mit Ludwig besondere Fälle. Hast du den neuen Säureblocker ausprobiert? Was ist aus der stillenden Mutter mit dem Brustkrebs geworden? Soll ich den Schmerzpatienten in die Klinik einweisen? Nur wenn Eva und Stefan sie danach fragten, erzählten sie von ihrem Alltag und ihren Patienten. Einmal – es ging um ein krebskrankes Kind – hatte Ludwig dabei fast geweint.

      Sibylle fühlte den heißen Tee in ihrer Brust hinunterlaufen. In ihr hämmerte die Frage, wie das Leben wohl aussehen könnte ohne Ludwig, ohne die Kinder, womöglich sogar ohne die Praxis. Diese Frage befiel sie hin und wieder, ohne Not, mehr aus einer allgemeinen Müdigkeit heraus. Sie suchte ein Bild für dieses andere Leben, doch je mehr sie sich anstrengte, desto heller und leerer wurde die Fläche in ihrem Kopf, bis sie brannte und schmerzte. Dann gab etwas in ihr nach, und allmählich drang das in sie ein, was sie sah: die Terrasse, die Zitronen, die Mandeln. Das Licht verschwand, sie konnte zusehen, wie die Farben entwichen. Der Olivenhain war schon fast schwarz. Am Horizont leuchteten Lichter auf, eine blinkende Kette.

      Sibylle fiel ihre erste Reise ein, an die sie sich überhaupt erinnern konnte. Vier oder fünf Jahre alt war sie damals, in Jugoslawien, und das, woran Sibylle dachte, waren die bunten Lichterketten, die auf der Terrasse des Hotels aufgehängt waren und im Wind schaukelten. Sibylle erinnerte sich an den Kellner, der sie bedient hatte und mit ihr und den anderen Kindern manchmal am Nachmittag im Wasser getobt und Ball gespielt hatte. Sie erinnerte sich an die Freundin ihrer Mutter, Gerti, die mitgefahren war, samt ihren zwei rotzfrechen kleinen Mädchen. Natürlich hatte es dem Kellner gefallen, den Tisch mit den beiden hübschen Frauen und ihren lebhaften Töchtern zu bedienen. Sibylles Vater war „unabkömmlich“, wie die Mutter es mit spitzen Lippen nannte.

      Sibylle fiel das Wort wieder ein, das sie als Kind oft gehört hatte. Es hatte ihr gar nichts ausgemacht, mit der Mutter allein zu verreisen, im Gegenteil, sie liebte diese Reisen. Ihre Mutter schaffte es, einem Neckermannpauschalurlaub in weitläufigen, damals noch eleganten Hotelanlagen den Hauch eines Abenteuers zu verleihen. Sie war entspannter als zu Hause, machte Unsinn mit den Kindern und kicherte ununterbrochen mit Gerti. Später hatte sich Gerti das Leben genommen, und ihre Mutter hatte wochenlang geschluchzt und „ich begreife das nicht, ich begreife das nicht!“ gerufen. Gerti hatte sich ohne jede Ankündigung aus dem Fenster des fünften Stocks geworfen.

      Sibylle wollte nicht an diesen Tod denken. Sie konzentrierte sich auf das Bild ihrer lachenden Mutter in einem pinkfarbenen Kleid mit weißen Blumen darauf. Vera. Eine typische Gestalt der Sechzigerjahre, mit hellrosa Lippenstift und passendem Nagellack; sie hatte Sibylle mit zweiundzwanzig bekommen und wirkte sehr jung. Als kleines Mädchen war Sibylle von allem fasziniert, was zu ihrer Mutter gehörte, ob es die weiße Lacklederhandtasche war, in der es nach Parfüm roch und Mentholzigaretten, oder ihre Armbänder, mit denen sie klapperte, oder ihre Aufregung, kurz bevor abends Sibylles Vater nach Hause kam. Sie toupierte sich das Haar, zog sich ein anderes Kleid an, fluchte und rauchte eine Zigarette nach der anderen.

      Ob meine Tochter mich auch so neugierig ansieht? Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Jenni war ein hellhäutiges Kind mit einem Puppengesicht; wenn sie den Mund öffnete, erschraken alle, weil ihre Stimme ungewöhnlich tief war. Sie war tollpatschig und verletzte sich oft; wenn irgendein Kind aus Versehen in ein Schwimmbecken fiel, war sie es. Dass sie aber auch kein bisschen anmutig ist, regte sich Sibylles Mutter manchmal über ihr Enkelkind auf. Es traf Sibylle jedes Mal wie ein Messerstich. Sie grübelte weiter über das Verhältnis ihrer Eltern zueinander. Es war ihr, als dächte sie an fremde Menschen. Warum war Mama immer so aufgeregt, bevor Papa nach Hause kam? Weil er launisch war und sie nie wusste, in welcher Stimmung er käme? Oder weil sie so verliebt in ihn war?

      Es lag schon so lange zurück.

      Es roch nach Zitronen und Meer. Der Streifen über dem Horizont war dunkelblau bis violett, darüber bildete sich ein schmales ausgefranstes Band von zartem Orange, der Himmel öffnete sich in lichtem Blau. Der Abendstern. Sibylle stellte sich an die Tür zur Terrasse und wünschte, die anderen würden nicht wiederkommen. Nicht so bald. Sie hatte das Gefühl, einer wichtigen Sache auf der Spur zu sein. Zu nah wollte sie ihr aber

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