Weltordnungskrieg. Robert Kurz
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Aber eben deshalb trifft Kautskys „Nostradamus-Vision“ eines demokratischen Sesselfurzers für den heutigen tatsächlichen „ideellen Gesamtimperialismus“ der NATO erst recht nicht zu. Denn erstens geht es dabei gar nicht mehr um eine gemütliche „gemeinsame Ausbeutung“ bislang noch kapitalistisch unerschlossener Weltregionen, sondern vielmehr um das Problem einer sich voranfressenden Weltkrise, die gerade dadurch bestimmt ist, dass der Kapitalismus des Zentrums auf der erreichten Höhe seines eigenen Produktivitäts- und Rentabilitätsstandards zunehmend „ausbeutungsunfähig“ wird und der Weltmarkt wachsende Zonen einer ökonomisch „verbrannten Erde“ zurücklässt, die ihre kapitalistische Erschließungsfähigkeit schon hinter sich haben.
Und zweitens ist gerade deswegen die NATO auch eine ganz und gar unfriedliche Allianz des Gesamtimperialismus, weil sie alle Hände voll zu tun hat, auf die politisch-militärischen, barbarisierenden Folgen der unbewältigbaren Krise einzudreschen. So entspricht es zwar den Tatsachen, dass es 80 Jahre nach Kautskys These keinen innerimperialistischen Konflikt nach dem Muster des Ersten Weltkriegs mehr gibt, aber der widersprüchliche supranationale Charakter der NATO fußt auf ganz anderen Entwicklungen, als sie Kautsky vorgeschwebt hatten; und so handelt es sich eben nicht um eine parlamentarisch transformationsfähige kapitalistische Friedensära, sondern um einen barbarischen Weltordnungskrieg ohne jede zivilisatorische Perspektive. Die Analogie von Kautskys Konstrukt des „Ultraimperialismus“ und des wirklichen „ideellen Gesamtimperialismus“ der NATO ist eine ganz äußerliche und unwahre.
Dass es im 21. Jahrhundert keine Neuauflage der früheren nationalimperialen territorialen Einflusskämpfe um die Welthegemonie geben wird, dafür sprechen allerdings nicht nur die ökonomischen und politisch-militärischen Fakten im Kontext von Pax Americana und Globalisierung. Auch die kulturelle und ideologische Entwicklung lässt nicht im geringsten erkennen, dass die alten Mächte der Weltkriegsepoche demnächst zur dritten Runde antreten werden und die NATO bloß eine vorübergehende Erscheinung in der Epoche des kalten Krieges gewesen sein könnte.
Bei einer weltpolitischen Konfliktkonstellation müssen die beteiligten Gesellschaften ja nicht nur politisch-ökonomisch und militärisch, sondern auch kulturell und ideologisch formiert und vorbereitet werden. Man muss sich nur einmal ansehen, mit welch ungeheurem Aufwand und historisch weitem Ausgreifen die jeweiligen Feindbilder sowohl in der Weltkriegsepoche zwischen 1870 und 1945 als auch in der bipolaren Nachkriegskonstellation zwischen 1945 und 1989 aufgebaut und kultiviert wurden. Das „perfide Albion“, der französische „Erbfeind“ und umgekehrt die deutschen „Hunnen“ usw. oder später das „totalitäre Reich des Bösen“ im Osten erfuhren eine nicht bloß propagandistische, sondern auch künstlerische, volks- und popkulturelle Pflege und Ausmalung bis in den Alltag hinein. Dafür wurden alle medialen Register gezogen, vom akademischen Disput bis zum Kinderbuch, von der Denkmalpflege bis zur patriotischen Lyrik. Nichts dergleichen lässt sich heute über einen systematischen Aufbau von neuen und wechselseitigen innerimperialistischen Feindbildern sagen. Sogar der traditionelle europäische Antiamerikanismus ist nicht nur marginal, sondern selber schon „amerikanisiert“.
Das heißt keineswegs, dass nicht nationalistische, antisemitische, „volksgemeinschaftliche“, rassistische usw. kulturelle und ideologische Muster wiederkehren und in den Krisenprozessen der Globalisierung verstärkt abgerufen würden. Aber im Unterschied zur Weltkriegsepoche stehen diese Muster nicht im Kontext einer nationalimperialen Formierung für den Vernichtungskampf der kapitalistischen Großmächte untereinander um „geostrategische Großräume“. Schon das Feindbild des sowjetischen „Reichs des Bösen“ war auf einer anderen Ebene herausgebildet worden; es reflektierte nicht mehr die Konkurrenz der nationalimperialen Staaten des westlichen industriekapitalistischen Zentrums untereinander, sondern die Konkurrenz des Zentrums als Ganzem mit den historischen Nachzüglern der Peripherie und deren innerkapitalistischem „Gegensystem“.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Kriegs kehren nicht die vorherigen alten Feindbilder zurück, sondern es wird ein neues, wesentlich diffuseres Feindbild aufgebaut, das überhaupt nicht mehr in erster Linie von irgendeiner in imperiale Politik verlängerten Konkurrenz innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt ist (dies galt nur für deren historischen Aufstiegsprozess), sondern unmittelbar von den Zerfallserscheinungen in der kapitalistischen Weltkrise: Diese sollen ideologisch veräußerlicht und personifiziert werden, um den Charakter der Krisenerscheinungen im Dunkeln zu lassen und ihre Ursachen zu verschleiern.
DIE REALEN GESPENSTER DER WELTKRISE
Natürlich will die demokratisch-kapitalistische Ideologie nicht wahrhaben, dass es sich beim neuen Weltfeind um das globale Zersetzungsprodukt des eigenen Systems handelt. Deshalb ist die offizielle Bestimmung der Lage auch bar jeder realistischen Analyse. Stattdessen wimmelt es beim Versuch, das Ziel zu identifizieren, wie in einem Kaleidoskop nur so von seltsamen Regimes, anachronistischen Clans, Terrorgruppen, fundamentalistischen Bewegungen, sogenannten „Schurkenstaaten“ usw. Die Generalbösewichte und jeweiligen Feinde Nr. 1, die undemokratischen Monster und Schlächtergestalten lösen einander in rascher Folge ab, ohne dass sich jemals ein klares Bild des Feindes herausbilden würde. Vom Standpunkt des kapitalistischen Weltsystems aus gibt es einfach keinen Begriff dafür.
Was sich feststellen lässt, ist eine gewisse Abstufung in den unklaren weltdemokratischen Feindbildern und in der Vorgehensweise. Im Falle des Irak und seines Diktators Saddam Hussein handelt es sich einerseits in gewisser Weise um ein Relikt des kalten Krieges und seiner „heißen“ Stellvertreterkriege, da der Irak wie viele Staaten der Dritten Welt zwischen den beiden Machtblöcken laviert und in deren Schatten sein weltregionales Aufrüstungssüppchen gekocht hatte. Andererseits war diese Aufrüstung des Irak auch bereits durch die neue Konstellation der Weltkrise nach dem Epochenbruch bestimmt, insofern es ironischerweise der Westen selbst war, der die Waffenarsenale für den blutigen irakischen Golfkrieg der 80er Jahre gegen das benachbarte Mullah-Regime des Iran geliefert hatte.
Saddam Hussein, ursprünglich im Kalten Krieg von der Sowjetunion protegiert, war in den 80er Jahren (wie verwandte Diktatoren-Gestalten der Peripherie sowohl vorher als auch nachher) zum Monster-Baby der westlichen Weltdemokraten selber mutiert, das sie aufgepäppelt hatten, um es in eine neue Art von Stellvertreter-Krieg gegen den damaligen iranischen „Schurkenstaat“ Nr. 1 zu schicken. Diese Option wurde mit großem Aufwand wieder revidiert und der Westen musste die von ihm selber gelieferten zweitklassigen und veralteten Waffensysteme zusammenschießen, was nicht gerade für ein schlüssiges Konzept der Weltordnungskrieger spricht.
Um das eigentliche Problem verstehen zu können, ist es notwendig, das zu tun, was die westlich-demokratischen Ideologen des Weltordnungskriegs um jeden Preis zu vermeiden suchen: nämlich die schwankenden Definitionen der „Weltfeinde“ auf den wirklichen Prozess der kapitalistischen Weltkrise zu beziehen, aus deren Verlauf erst auf die Entwicklung des Feindbildes geschlossen werden kann. Bei dieser Betrachtung stellt sich die Konstellation des Kriegs gegen den Irak Anfang der 90er Jahre als ein Übergangsphänomen heraus.
Krisenpotentaten und neue Bürgerkriege
Kann der erste demokratische Weltordnungskrieg gegen den Irak zumindest teilweise noch als Überhangproblem des Kalten Kriegs nach dem Epochenbruch verstanden werden, so war der zweite Weltordnungskrieg gegen Restjugoslawien schon viel stärker von den Folgen der neuen Weltkrise bestimmt. Im Unterschied zu Saddam Hussein, der vor den Sanktionen noch aus dem Vollen des Ölreichtums schöpfen konnte, war die neue Unperson Milosevic kein übrig gebliebener Diktator aus der Epoche des Kalten Krieges, sondern bereits ein typischer Krisenpotentat, hervorgegangen