Europa auf der Intensivstation. Rahim Taghizadegan
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Gegen diese Deutung richtet sich am stärksten die Gegenposition derjenigen, die jegliches Vertrauen in Politik, Medien und Wissenschaft verloren haben.
Es ist alles ein abgekartetes Spiel. Europas Politiker haben eine künstliche Panik geschaffen, um ihre eigenen Interessen gegen die der Bevölkerung durchzusetzen. Experten, die von Massenmedien und Politik ausgeblendet – fast schon verheimlicht – wurden, hatten von Anfang an darauf hingewiesen, dass das Coronavirus ein gängiger Grippevirus und damit genauso ungefährlich ist. Die Krise ist eine Folge aktiver und bewusster Wirtschaftszerstörung, die Alibi und Ablenkung bieten soll, damit sich organisierte bösartige auf Einzelinteressen fixierte Eliten auf Kosten der Allgemeinheit weiter bereichern können, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Diese Abrechnung stand kurz bevor. Der Zechpreller schlägt die Wirtschaft kurz und klein, um ungeschoren davon zu kommen.
Die erste Deutung, die von größtem Vertrauen in die Institutionen getragen wird, lässt sich nicht einfach durch Behauptungen widerlegen, die vor allem auf allergrößtem Misstrauen beruhen. Die Nachkriegsordnung Europas ging mit einer Phase des Wohlstands und Friedens einher, die – auch wenn in der Geschichte Kausalität stets eine unbewiesene Behauptung ist – zu Vorsicht mahnt, die Legitimität dieser Ordnung nicht leichtfertig zu untergraben. Die nationalen und supranationalen Strukturen Europas verdienen es, mit Respekt betrachtet zu werden.
Doch dieser Respekt muss selten eingefordert werden, außer es geht bergab. Menschen hängen intuitiv am Status quo, wenn sie sich nicht für die Verlierer desselben halten. Die konservative Sorge um den Bestand von Institutionen kann zu Erstarrung führen, sodass es irgendwann mit Gewissheit bergab geht, bis sich Institutionen nur noch mit Gewalt Respekt verschaffen können – und ihn damit endgültig verlieren.
Noch ist die Perspektive des völligen Misstrauens eine Minderheitenperspektive. Sie scheint in einem der wohlhabendsten und friedlichsten Teile der Welt völlig verrückt, wenn nicht gemeingefährlich zu sein. Das Misstrauen in die Misstrauenden ist groß, der Respekt für ihre Positionen gering. Doch ich halte die Zunahme des Misstrauens für ein wichtiges Omen.
Ein anderes Omen ist der Bewusstseinswandel, der schon lange vor der aktuellen Wirtschaftskrise eingesetzt hat. Das Vertrauen in die Zukunft hat sich gewandelt in eine düstere Ahnung, die wenig in Worte gefasst wird. Diese Ahnung zeigt sich in der Antwort auf die Frage: Glauben Sie, dass es Ihren Kindern besser oder schlechter gehen wird als Ihnen selbst? Die Antworten darauf werden seit geraumer Zeit immer negativer.
Ich halte nichts von Angstmache auf der Grundlage esoterischer Vorzeichen. Dennoch sehe ich diese Omen als ernstzunehmende Anstöße, über die Zukunft nach der aktuellen Krise nachzudenken. Ich werde keine Utopie entwerfen, kein politisches Programm, sondern versuchen, Argumente zu bieten, die hoffentlich zugleich ungewöhnlich und überzeugend genug sind.
Ich halte kritische Argumentation für die Grundlage der Erkenntnis und einer Ordnung freier Menschen. Dabei geht es nicht darum, welche Welt wir uns wünschen, sondern ob wir die Welt, die wir teilen, gemeinsam begreifen können – in allen ihren Facetten, die unseren Wünschen und Interessen so oft widersprechen. Ich habe mich daher dazu entschieden, das gesamte Buch über kritische Fragen zu strukturieren– wie ein offenes Gespräch über all die konträren Deutungen der Zeit.
Eine kurze Anleitung für den Leser: Ausgehend von der Einstiegsfrage verweisen Begriffe auf Themen für weitergehende Fragen. Die Hochzahl neben Wörtern verweist also nicht auf eine Fuß- oder Endnote, sondern auf die Nummer jener Frage, die das entsprechende Thema behandelt. Der Leser ist also völlig frei, thematisch zu springen. Dieses Buch müssen Sie nicht von vorne bis hinten lesen, sondern können es in genau der Reihenfolge und Tiefe lesen, die Ihren Interessen entspricht. Am Ende jeder Frage finden Sie die Fragen, die auf die gerade aufgeschlagene verweisen – Sie können also auch einfach zurückspringen. Damit handelt es sich um das wohl erste Buch mit bidirektionalen Verweisen. In den digitalen Formaten können Sie über das Klicken von Links weiterspringen, im physischen Format blättern Sie einfach zur jeweiligen Frage – dazu sind die Fragennummern sichtbar angeführt.
Ich werde versuchen, Argumente, denen ich widerspreche, mit Empathie und Respekt zu behandeln. Auch das unausgesprochene Argument gegen die Argumentation, gegen den Zweifel und die Kritik. Umso schärfer wende ich mich gegen die – meiner Einschätzung nach – dominante Position, die nicht aus einer begründeten Ablehnung von Kritik und Argument hervorgeht, sondern sich oft bloß für besonders »kritisch« hält: jene der Selbstgefälligkeit, die eigentlich Angst ist. Angst vor wirklichem Widerspruch, vor der peinlichen Blöße. Es ist die Angst der Mitläufer. Diese Mischung aus Selbstgefälligkeit und Angst ist eine weitaus gefährlichere Seuche als COVID-19. Sie könnte »Europa«, diese Ahnung einer geographischen Verdichtung positiver Besonderheiten, tatsächlich zu Grabe tragen.
Jene, die ihre düsteren Ahnungen schon ernster nehmen, sollen durch meine Argumente ein wenig von der Panik befreit werden: nicht durch Schönreden der Zustände, sondern durch argumentatives Durchdringen. Gute Philosophie ist ein Programm, Angst zu verlieren, nicht weil die Welt in rosarotes Licht getaucht wird, sondern weil das Verstehen der Schatten ihre Bedrohlichkeit mindert. Doch dieses Buch ist kein »Philosophieren« im heutigen Sinne, nicht das sprachlich kunstvolle Aneinanderreihen von Wunschbildern, sondern soll eher als »ökonomisches« Argumentarium wahrgenommen werden: Mein Augenmerk gilt dem Austausch realer Menschen und der für sie relevanten Probleme. Mit welcher Art von Krise haben wir es zu tun, wie könnte sie weitergehen und was könnte danach kommen? Gibt es Auswege und Alternativen? Wie gut geht es uns wirklich, wie schlecht könnte es uns noch gehen? Woher kommen die Widersprüche unserer Zeit und wohin führen sie?
Doch beginnen wir das Gespräch auf Augenhöhe, lieber Leser. Ich halte Sie im Zweifelsfall für vernünftig und anständig, auch wenn Sie mir in vielen Punkten widersprechen werden. Eine gemeinsame Basis können wir in Zeiten der Zerrüttung und Spaltung kaum noch voraussetzen. Sie halten mich im Zweifelsfall für jemanden, der etwas zu verkaufen hat, vielleicht eine Ideologie, Ausreden und Alibis für Interessen, zumindest ein Buch. Es ist also durchaus vernünftig, gleich mit dem Widerspruch zu beginnen. Nur zu: Europa auf der Intensivstation, ist das nicht eine Übertreibung?¹
1. Europa auf der Intensivstation, ist das nicht eine Übertreibung?
Es ist eine Analogie und ein Aufhänger für ein Buch, wofür etwas Dramatik zugegebenermaßen günstig ist. Die Analogie lag inmitten der Coronavirus-Pandemie8 nahe.
Ein gewaltiger Schock9 erfasste die Welt, und dieser Kontinent scheint besonders getroffen. Eine Wirtschaftskrise17 scheint unabwendbar, mittels politischer Interventionen12 soll das Schlimmste abgewandt werden. Es ist naheliegend, in einer solchen Situation innezuhalten und Zukunftsfragen zu stellen. Zunächst überwiegen aber die gegenwärtig drängenden Probleme. Da scheint eigentlich Zuversicht geboten, dass wir diese Probleme vielleicht sogar relativ besser lösen können als anderswo, etwa in den USA57.
Ich stehe aber zur Analogie: Die Lebendigkeit Europas ist in besonderer Gefahr. Europa hängt an allerlei Schläuchen und damit immer mehr von künstlichen Interventionen12 ab. Das ist kein negatives Urteil über Europa2 und die Europäer, sondern eine Warnung, dass die alte Dame fragil geworden ist und an einer existenziellen Weggabelung steht: Niedergang6 oder Heilung7.
Das ist wieder allzu dramatisch formuliert, es dient ja auch dem Aufhänger, soll aber eine erste, vereinfachte, Annäherung an das Thema bieten. Vor der Therapie steht die Anamnese, der Krankenbefund. Dieses Buch ist allenfalls eine eingeholte