Europa auf der Intensivstation. Rahim Taghizadegan

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Europa auf der Intensivstation - Rahim Taghizadegan

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den ewiggestrigen Nationalisten oder zu den USA57. In der ersten Ausprägung kann man dann »europäische Gesinnung« leicht mit den Interessen einer kosmopolitischen Oberschicht verwechseln, welche geringschätzig auf die Unterschicht blickt, die nicht genug Muße zum Reisen und nicht genug Beziehungen für die internationale Karriere hat. In der zweiten Ausprägung ist es der Anti-Amerikanismus, der ein wichtiges Korrektiv zu imperialem Zynismus und transatlantischer Ergebenheit sein mag, aber keine positive Identität nähren kann, nur Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit, kulturellen Snobismus und weinerliche Nostalgie.

      Identität gibt Kraft, und als Einzelmensch mit einem Kontinent mythisch verwoben zu sein, mag Sinn stiften. Da ist es allerdings ein wunder Punkt, dass der Kontinent nicht klar abtrennbar von der asiatischen Masse ist. Man könnte das Christentum bemühen, das wäre aber zu universalistisch für einen engeren Europäismus und zu unmodern für den aufgeklärten Europäer.

      Europäische Identität meint daher oft nur die politische Position, eine weitere Übernahme von Agenden durch die EU5 zu befürworten. Doch die vermeintliche Einigung könnte sich noch als Spaltung39 erweisen.

      Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 2, 3, 23, 46, 49, 57, 59, 60

      5. Können die Folgen von Pandemie und Wirtschaftskrise nur auf europäischer Ebene bewältigt werden?

      Die Europäische Union ist die große Nachkriegshoffnung ­Europas. Sie drückt den Wunsch nach Einigung und Frieden aus und ist ein ambitioniertes Projekt der Gründung einer ­neuen Institution, das – trotz aller Probleme – als gelungen gilt, wenn auch lange nicht als abgeschlossen.

      Dass kluge Menschen nach dem Krieg über einen institu­tionellen Neuanfang auf der Grundlage einer geeinten freien Welt nachdachten, ist ihnen hoch anzurechnen. Doch Visionäre sind meist Denker und keine Macher, sie sind selten diejenigen, die eine neue Institution wirklich aufbauen. Sie liefern Ideen, Begründungen, ideologische Alibis, hinter denen Macher ­harte Bretter bohren.

      In der Politik ein »Macher« zu sein, unterscheidet sich leider vom Unternehmertum. Interessenausgleich mag ein Ergebnis von Politik sein, doch es werden nur organisierte Interessen ausgeglichen. Der nötige Kuhhandel hat mit Handel wenig zu tun: Es geht nicht um den Tausch zwischen Landwirten, die über ihre Rinder verfügen, sondern eher um Menschenwirte, die über Menschenherden verfügen.

      Die Europäische Union war wie jede politische Institution53 durch solchen »Kuhhandel« über die Köpfe von Menschen hinweg geprägt. Besonders der Euro23 zeigt eine dunkle Vorgeschichte eiskalter Interessenpolitik, die sich weniger an Bürgerinteressen als an den Interessen der Herdenhirten orientiert.

      Solch ein Ausgleich muss nicht schlecht sein, wenn die ­Alternative Entzweiung zwischen politischen Räumen ist. Oft ist aber die langfristige Folge eine Spaltung39, wenn das Vertrauen40 Schaden nimmt – etwa durch wachsende Sorge, als Bürger60 übervorteilt zu werden.

      Je größer die Institution, je komplexer, desto wichtiger wird die kritische Durchleuchtung. Denn komplexe Institutionen bieten hervorragende Blasen18 für Menschen, die Kapitalkonsum betreiben, anstatt Werte für ihre Mitmenschen zu schaffen. Komplexe Institutionen schirmen Verantwortung ab und nähren damit Selbstüberschätzung und Inkompetenz.

      So kommt es, dass sich Menschen, die außerhalb der Blase18 der Politik keinerlei Erfahrung aufzuweisen haben, plötzlich für Investoren, Feldherren und Manager kontinentaler Dimension halten.

      Wahrscheinlich wird die Europäische Union zu einem Papiertiger, zu einem Beschäftigungsprogramm für weltwirtschaftlich nicht mehr vermittelbare Akademiker und nationalstaatlich nicht mehr gewählte Politiker. In den kommenden Problemen, für welche die aktuelle Pandemie nur eine sanfte Generalprobe war, geht die Spaltung quer durch die Gesellschaften. Solidarität, Frieden, Einigung werden dann vielleicht wieder reale Notwendigkeit und nicht bloß politische Phrasen sein. Im besten Fall werden die positiven Elemente der europäischen Nachkriegsvision wieder reale Wirkung und Relevanz entfalten. Erzwingen kann man sie nicht, man muss sie sich erarbeiten. An manchen Stellen wird man wieder bei null anfangen müssen.

      Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 4, 7, 13, 19, 23, 25, 53, 55, 58, 60

      6. Die alte Leier vom Untergang des Abendlandes?

      In der Tat wurde in keinem Teil der Welt öfter der Untergang prophezeit, herbeigesehnt oder als Vorwand politischer Interessen genutzt. Je dynamischer Europa wurde, desto stärker wurden diese Untergangsphantasien.

      Die Modernität lastet dem Menschen ein enormes Sinnproblem auf. Wie Viktor Frankl erkannt hatte, sagen dem modernen Menschen weder Instinkt noch Tradition, was richtig ist. Das führt zu Angst und Wut. Die Dynamik28 Europas vergrößerte die Widersprüche und Spannungen.

      Den Niedergang dieser Dynamik festzustellen, ist etwas ganz anderes als die historischen Warnungen vor einer unkontrollierbaren und rasanten Fahrt in den Abgrund.

      Noch schlimmer aber als das Schwinden einer Dynamik, was man empathisch als verdiente Altersschwäche betrachten könnte, wäre eine falsche Dynamik aus Ungeduld, Selbstüberschätzung und Selbstgerechtigkeit. Dann schwindet die Fruchtbarkeit europäischer Spannung. Zwischen Zwangsvereinheitlichung und spalterischem Misstrauen könnte dann aufgerieben werden, was Europa immer noch besonders lebenswert macht.

      Viele Europäer haben es sich in Blasen18 so bequem eingerichtet, dass sie Wirtschaft für den nebensächlichen Zeitvertreib der Zu-kurz-Gekommenen und der Zu-hoch-Gewachsenen sehen, der Ärmsten und Reichsten. Das gemächliche Weitergereicht-Werden durch Institutionen53 wird zum Ideal der Mittelschicht – von der Wiege bis zu Bahre: Kindergarten, Schule, Universität, Behörde oder staatlich finanzierte »NGO«, Ruhestand.

      Es droht kein Krach, sondern viel schlimmer, eine ewige Wirtschaftskrise17 im Sinne einer sich selbst nährenden Lernunfähigkeit. Der ökonomische Begriff Stagflation27 lässt harmlos erscheinen, was tatsächlich selbstbeschleunigter11 Kapitalverzehr werden könnte – ein Wirtschaftswunder im Umkehrschub.

      Das lässt die Spannungen wachsen, ohne die Mittel und Bereitschaft, sie in positive Dynamik umzumünzen. Mit steigenden Vorerkrankungen und sinkender geistiger Immunität könnte die alte Dame Europa dann wirklich einer Pandemie zum Opfer fallen – einer Pandemie von Gedankenviren42. Auch dann wird der Subkontinent nicht im Mittelmeer untergehen. Aber die besten Europäer werden Europa dann (wieder) den Rücken kehren.56

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