Europa auf der Intensivstation. Rahim Taghizadegan

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Europa auf der Intensivstation - Rahim Taghizadegan

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zu stagnieren. Aufgrund der Überspanntheit unserer Gesellschaften, die demographisch, ideologisch und geldpolitisch unter Druck stehen, bedeutet Stagnation27 nicht gemächliches Dahinleben auf hohem Niveau, sondern steigende Volatilität: Immer neue Schocks9, an denen das Schlimmste stets die Reaktionen sind, die sich zu einer Spirale54 der Selbstbeschäftigung und Selbstbeschädigung hochschaukeln.

      Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 1, 2, 18, 40, 45, 54, 58

      7. Welche Rezepte verschreibt der Autor Europa?

      Ein Europa2 als handelnde Akteurin, das gibt es nicht und kann es nicht geben. Die Europäische Union5 ist eine der vielen politischen Akteurinnen und gewiss nicht die wendigste. Rezepte verschreiben – das ist ein naiver Blick auf politische Probleme.

      Die Rezeptpflicht, die Legitimität, Rezepte zu verschreiben, die auch befolgt werden, beruht auf der Autorität der Wissenschaft16, der Wirksamkeit von Pharmazeutika und dem Versagen der Prävention. Leider ist Wissenschaft, insbesondere Sozialwissenschaft, kein Konsensverfahren mit klaren Entscheidungen, sondern ein Widerstreit gegensätzlicher Argumente. Experten als »Götter in Weiß«, die Entscheidungen abnehmen, Statiker zum Bau gesellschaftlicher Brücken, die nicht einstürzen, weil ihre Kalküle unbestritten und fehlerlos sind: Solche Sehnsüchte führen nur zu verhängnisvollen Irrwegen.

      Wie in der Medizin grassiert in der Politik eine Hybris der Ingenieure – Sozialingenieure. In der Medizin trägt der Ingenieuransatz zumindest ein wenig, denn das komplexe System Mensch enthält mechanische Bauteile und chemische Flüsse, welche einige mechanische und chemische Reparaturen zulassen. Heilung geschieht jedoch auch hier als spontaner Prozess des selbsttätigen Wiedereinpendelns eines komplexen Systems, wenn vorübergehende Störungen beseitigt sind. Der Arzt reinigt die Wunde, damit sie verheilen kann, aber er heilt keine Wunden.

      Gesellschaft ist ein noch komplexeres System, denn sie ist die Potenzierung von Einzelmenschen durch Interaktion. Für die Europäische Union5 Rezepte zu verschreiben, mit der sie die Gesellschaft reparieren könnte, ist eines jener Wunschbilder, wie sie nur in Blasen18 gedeihen können – in den Echokammern einer Gedankenwelt fern der Realität.

      Wir müssen also Akteure definieren, dann können wir über Handlungsanleitungen nachdenken. Handeln können zunächst Individuen64. Gemeinsames Handeln ist auf drei Wegen möglich: über spontane Koordination, organisierte Koordination und Zwang. Spontane Koordination entsteht über die Wechselwirkung zwischen Individuen mit Familie, Freunden, Bekannten, Kunden, Kollegen etc. – also in freiwilligen Beziehungen. Organisation ist meist Koordination von Interessen und kann zu Institutionen53 führen. Zwang ist als legitimes Mittel dem Staat62 vorbehalten. Kleinere politische Einheiten wie etwa Gemeinden65 sind Spezialfälle, weil in ihnen alle drei Formen des gemeinsamen Handelns zusammentreffen.

      Dieses Buch will nicht Heilung versprechen, sondern Hoffnung machen. Heilsversprechen sind gefährlich, denn sie führen zur Illusion, dass die Spaltung39 unserer Gesellschaften durch kollektives Heil überwunden werden könnte. Was wir tun können, ist, realistische Handlungsmöglichkeiten zu erkennen, und das bedeutet zunächst Verständnis der Realität. Politisches Handeln wütend zu debattieren, also Interventionen12 vor Erkenntnis und Verständigung zu fordern, ist sinnlos und vergrößert nur unproduktive Spaltung. Am wichtigsten wäre, die Vielfalt der Perspektiven, Ansätze, Handlungsmöglichkeiten in produktive Spannung überzuführen: Was können wir tun, ohne die Illusion vorauszusetzen, erst eine Mehrheit auf ein Ziel eingeschworen zu haben?

      Die Kraft Europas könnte darin liegen, statt leblose Einigkeit in Kompromiss, Alternativlosigkeit oder Zwang zu suchen, die lebhafte Spannung wiederzufinden, die Raum für völlig konträre Perspektiven lässt, für frische Experimente und innovative Wagnisse, ohne die Kosten des Scheiterns der meisten neuen Ansätze zu sozialisieren. Aus dem Dickicht der hier verfolgten – eng miteinander verflochtenen – Themen blitzen an vielen Stellen Andeutungen zu solchen Auswegen hervor.

      Politische Lösungen vertreten oft die Ideologie der Machete: des Auswegs, der einfach durchs Dickicht geschlagen wird, wenn wir uns nur auf die Richtung einigen könnten. Solche Lösungen wären lächerlich, wenn sie nicht so gefährlich wären. Auch ein erreichter Konsens bedeutet keine Allwissenheit – und einen Konsens über die Zukunft erreichen zu können, wäre ein Hinweis auf kollektive Verblendung und Mitläufertum.

      Verbesserungen folgen aus Entdeckungen, nicht aus Verordnungen. Erst müssen wir das Dickicht durchdringen, seine Komplexität respektieren, die dunklen Flecken erkennen, dann erst können wir Wege hinaus finden. Auswege gibt es stets viele, aber noch mehr Sackgassen. Je kleiner und wendiger, desto weniger Kratzer.

      Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 1, 66

      8. Haben europäische Länder die Pandemie besser in den Griff bekommen?

      Wir haben es mit einer untypischen Atemwegserkrankung zu tun, deren geringe Letalität14 gewiss ist. Ungewiss15 ist noch fast alles andere, und jeder kann sich für das gewünschte Narrativ geeignete Hinweise herauspicken. Erneut spaltet also ein aktuelles Thema quer durch alle Lager – ist aber wahrscheinlich wieder nur Symptom bereits bestehender Spaltung39.

      Die nationalen Grenzschließungen und die Interventionen12 bis hin zum Hausarrest gesunder Bürger60 hätte vor der Panik angesichts der norditalienischen Todeszahlen kaum jemand für möglich gehalten. Führende Politiker hatten solche Reaktionen völlig ausgeschlossen. Anfang des Jahres 2020 war es noch Mehrheitsmeinung, »Corona-Leugner« zu sein. Der öffentliche Rundfunk in Deutschland erklärte etwa in einer Sendung Corona-Panikmache zum Hinweis auf rechtsextremes Gedankengut.

      Europa traf der Schock, zum Epizentrum10 der Coronavirus-Pandemie zu werden, und die Meinung drehte sich. Angesichts exponentiell wachsender Belegungen der beschränkten Intensivstationen, des Institutionenversagens53 bei der Ausstattung der Krankenhäuser mit Schutzausrüstungen und bei anderen Prozessen der Pandemiebewältigung schien der Griff zum Panikknopf, zur Stopptaste, alternativlos.

      Es war eine Schocksituation der Ungewissheit15 des Pandemiegeschehens durch Unwissen über die kausalen Zusammenhänge und der mangelnden Vorbereitung – beides Folgen fehlender Innovation43 und Lernfähigkeit. In einer solchen Lage des Unwissens blieb nur die mittelalterliche Methode des Lockdown. Das ist so, als wäre unsere Mikrowelle kaputt und wir müssten Feuer machen.

      Schon nach wenigen Wochen deutete sich an, dass die Autorität der Wissenschaft16 mit prophetischer Gabe verwechselt worden war. Die epidemiologischen Modelle waren durchwegs falsch. Die Abflachung der Zahl an Intensivpatienten setzt viel früher ein. Heute blicken wir gebannt auf Infektionszahlen, die weitgehend irrelevant sind.

      Die Spaltung39, vor allem in den USA57, verhindert eine kritische Bestandsaufnahme. Der Lockdown war politisch alternativlos, weil die Gesellschaft nach anfänglicher Sorglosigkeit in Panik gekippt war, und praktisch zumindest plausibel, weil die mögliche Selbstverstärkung der Todesdynamik zu klären und zu bremsen war. Im Nachhinein ist mit steigender Gewissheit

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