Europa auf der Intensivstation. Rahim Taghizadegan
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13. Bedeutet strengerer Datenschutz mehr Freiheit?
Das Recht auf Privatsphäre ist Teil der Freiheit48, indem wir Mitbürger in ihrer Autonomie respektieren. Privatsphäre im eigentlichen Sinne scheint immer weniger zu gelten: Das schwindende Vertrauen40 führt zu Generalverdacht. An Abhören, Konteneinsicht, »Doxing« (Identifizierung von Menschen gegen ihren Willen), Kapitalverkehrskontrollen55 gewöhnen wir uns langsam. Merkwürdig ist nur, dass der Datenschutz so präsent zu sein scheint: Die EU5 verordnete eine strenge Datenschutzverordnung zur nationalen Umsetzung, amerikanische Unternehmen sind immer wieder in der Kritik – und ein gewisser Stolz scheint in Europa vorhanden zu sein, es mit Daten strenger zu nehmen.
Doch das ist vor allem Ablenkung. Gesetzlich liegt nun der Fokus auf Daten, die Menschen freiwillig teilen und deren Verarbeitung kaum schlimmere Folgen für sie hat als Werbekontakte. Gewiss ist das Geschäftsmodell der »(un)sozialen Medien41« bedauernswert, es ist aber Folge und nicht Ursache der kurzfristigen Gratiskultur.
Die Datenschutzgrundverordnung lud im Wesentlichen Unternehmen Kosten und Mühen auf, ohne irgendeine der wahren Gefahren für die Privatsphäre einzudämmen. Die Datenverarbeitung, um die Zielgenauigkeit von Werbung zu erhöhen, ist keine reale Gefahr. Eine reale Gefahr ist die schwindende finanzielle Privatsphäre der Bürger60, denn sie könnte zu einer Existenzbedrohung werden, und der leichtfertige Umgang von Medien41 mit der realen Identität von Menschen, die zunehmend digitalen Mobs ausgesetzt werden, die immer öfter gewalttätig ins Analoge übergreifen. Manche Regierungen erzwingen sogar Klarnamen im Digitalen – ein gemeingefährliches Missverständnis digitaler Dynamik. Nicht vom Trollen, der »Hassrede« im Netz von marginalisierten Figuren, geht die größte Gefahr aus, sondern vom Hass, der digital organisiert gegen Einzelmenschen gerichtet werden kann.
Datenschutz ist also kaum Ausdruck von Freiheit, sondern Ausdruck einer Schizophrenie: Einerseits die Anspruchsmentalität, von der Kostenlosigkeit der werbefinanzierten Geschäftsmodelle zu profitieren, und der digitale Exhibitionismus von Narzissten, andererseits die Missgunst, irgendjemandem nützlich zu sein – und sei es auch nur durch im Einzelnen wertlose Daten, die erst im Aggregat und in Verbindung mit dem Konsumismus breiter Schichten wertvoll werden. Datenschutz ist vor allem aber ein Ablenkungsmanöver der Politik.
Diese merkwürdige Einstellung zu den Daten führt dazu, dass Europa zwar Datenerhebungsweltmeister ist, mit seiner alten Schriftkultur, die zunehmend in Behörden und Institutionen frei von realer Nützlichkeit gedeiht. Mit diesen Daten irgendetwas Sinnvolles anzustellen, da aber wird Europa zum Schlusslicht.
Der Bluff rund um die Daten gelingt dank technischen Unwissens: dass Datenzugriff nur total oder gar nicht möglich wäre und dass die gesamte Privatsphäre dahin wäre, wenn Daten verarbeitet würden. Tatsächlich erlaubt die Kryptographie Datenkontrolle und Datentrennung bei völliger Digitalisierung19.
Behörden arbeiten allen Ernstes noch mit Papierformularen, denn Mehrarbeit ohne Nutzen ist für sie kein Kriterium: Eigene Mehrarbeit ist stets Legitimierung von mehr Mitteln und mehr Bedeutung, Mehrarbeit der »Untertanen« bleibt ohne Konsequenz. Ständig werden uns Daten abgenötigt, eben ohne Nutzen und Sinn, und daher als reine Schikane. Aber als Daten bei der Pandemieeindämmung nützlich hätten sein können, zählten nur die Vorbehalte, als ob die Auswertung anonymisierter Bewegungsdaten ein schlimmerer Eingriff wäre als der verordnete Hausarrest gesunder Bürger.
Die Pandemie wäre die Gelegenheit zur Optimierung von Prozessen in Verwaltung und im Gesundheitssystem, für Innovation43 im Bereich digitaler Identität zur Vereinfachung des Lebens statt zur Überwachung. Die heutige Technik ermöglicht passgenaue Datenübermittlung nach gegebener Erlaubnis. Die ständige Aufnahme von Namen und Anschrift, die bei allen Interaktionen die volle Identität preisgibt, ist nur Ausdruck technischer Rückständigkeit. Denn letztlich geht es in den meisten Anwendungen gar nicht um die Übermittlung von Identitätsdaten, sondern um sicheres Erlaubnismanagement und den Schutz vor Datentäuschung.
Das innovative Verbinden von anonymisierten Suchanfragetrends, Bewegungsmustern und Gesundheitsdaten würde die mittelalterlichen Methoden von Lockdown und nationalen Grenzsperren wohl auch bei wesentlich schwereren Pandemien ersparen. Noch sind die Erfahrungen schwer vergleichbar, aber die weniger starke Unterbrechung des Alltagslebens in Taiwan und Singapur wird zum Teil auf die viel höhere Kompetenz im Einsatz digitaler Werkzeuge zurückzuführen sein, nicht bloß auf »Überwachung» – als ob in Europa wesentlich mehr relevante Privatsphäre gegeben wäre.
Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 10
14. Also doch nur ein weiterer Corona-Leugner?
Ich habe selbst bereits im Februar in Artikeln davor gewarnt, das Coronavirus zu unterschätzen, als in Europa noch Sorglosigkeit herrschte. Der Eindruck hoher Letalität in Norditalien führte dann zu Panik. Panik ist die Angst, die zu spät kommt. Wenn man schon in Panik geraten möchte, dann so früh wie möglich.
Zur guten Abschätzung von Letalitätszahlen braucht man ein möglichst kontrolliertes Umfeld; das unverstandene Seuchengeschehen in Italien eignete sich dafür nicht. Die Grundlage meiner Einschätzungen im Februar war daher das unfreiwillige Großexperiment auf dem Kreuzfahrtschiff vor Japan. Daraus ließ sich relativ bald eine Letalität errechnen, die nicht über der von schwereren Grippewellen liegt.
Seitdem in Europa mehrheitlich verachtete Politiker den Grippevergleich bemühten, ist er zu einem Tabu geworden. Das ist genauso dumm, wie den Grippevergleich zum Abwiegeln zu nutzen: Grippe ist kein Schnupfen, sondern ein Komplex von Infekten ausgelöst durch laufend mutierende Viren, der in Gesellschaften mit langer Lebenserwartung wachsende Todeswellen bedeutet, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte.
Vor einer Pandemie mit Grippeähnlichkeit besorgt zu sein, ist richtig. RNA-Viren sind veränderlich, und eine neue Rekombination, die hohe Letalität (bei der Vogelgrippe z. B. 60 Prozent) mit hoher Infektiosität (R0 bei Masern z. B. 15) verbindet, ist nie auszuschließen – etwa durch lange Inkubationszeit, asymptotische Übertragung oder Spätfolgen. Im Nachhinein kann sich diese Sorge als nicht zielführend erweisen, weil jegliches Handeln irrelevant war – etwa weil die überwiegende Zahl an Mutationen keine Verschlimmerung der Lage bedeutet und die meisten Viren völlig harmlos, viele sogar gutartig sind.
Der mediale Fokus auf Infektionszahlen ist weitgehend irrelevant, denn diese folgen den Tests und sind nicht nach relevanten Unterschieden aufgeschlüsselt, nämlich Alter und Komorbidität. Inzwischen hat sich das gesamte Konzept einer Reproduktionszahl als Trugschluss16 erwiesen: Ein epidemiologisches Kürzel, eine Heuristik wurde durch akademisch-mediales Überstrapazieren