Der Königstein und seine Gefangenen. Gunter Pirntke
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Die im Vormärz aufflammende nationale Bewegung in dem seit 1795 staatlich nicht mehr existierenden Polen führte zum Krakauer Aufstand, der von Russland, Österreich und Preußen militärisch niedergeschlagen wurde. Viele Polen flüchteten 1846 über Sachsen nach Frankreich. Der Anführer der Republik Krakau Dr. Johann Tyssowski gehörte dazu. Er wurde Anfang März 1846 in Dresden verhaftet und Ende jenes Monats auf die Festung Königstein verbracht. Am 15. Mai 1846 traf ein österreichischer Kriminalrat auf der Festung ein und verhörte in den nächsten Wochen im Beisein des sächsischen Appellationsrates Ertel. Im Verlauf der Verhöre wurde offenbar, dass enge Verbindungen zwischen sächsischen Demokraten und polnischen Emigranten in Paris bestanden, was auch in Sachsen zu neuen Kriminaluntersuchungen führte. Am 9. Februar 1847 wurde Tyssowski an Österreich ausgeliefert.
Dann kamen die Revolutionsjahre 1848/1849 mit dem Maiaufstand vom 3. bis 9. Mai 1849 in Dresden. Die führenden Köpfe des Aufstandes, denen die Polizei habhaft wurde, kamen auf den Königstein. Am 29. August 1849 wurden der Russe Michael Bakunin, militärischer Berater der Aufständischen, weiterhin der Musikdirektor August Röckel, das Mitglied der Provisorischen Regierung Otto Leonhard Heubner und der Kommandant der Dresdner Kommunalgarde Alexander Clarus Heintze in der Festung eingeliefert. Bis zu ihrer Verurteilung verblieben sie in der Georgenburg. Bakunin wurde am 12. Juni 1850 an Österreich ausgeliefert, Röckel, Heubner und Heintze kamen am 18. Juni 1850 in das Zuchthaus Waldheim.
Der nächste prominente Festungsgefangene war August Bebel. Weil er sich 1871 zur Pariser Kommune bekannt hatte, wurde er angeklagt und vom Landgericht Leipzig im März 1872 zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt, von denen er die meiste Zeit in der Strafanstalt Waldheim verbüßte und im April/Mai 1874 für drei Wochen auf dem Königstein war, wo er im Alten Zeughaus untergebracht worden war. Die wohl letzten politischen Gefangenen auf der Festung Königstein vor dem Ersten Weltkrieg waren die Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift „Simplizissimus“ Karikaturzeichner Thomas Theodor Heine und Dramatiker Frank Wedekind. Wegen „Majestätsbeleidigung“, sie hatten sich über die Palästinareise Kaiser Wilhelms II. 1898 lustig gemacht, wurden Heine vom Landgericht Leipzig zu sechs Monaten Festungshaft und Wedekind, der erst im Juni 1899 nach Leipzig zurück kam, zu sieben Monaten Festungshaft verurteilt, die sie auf der Festung Königstein verbüßten. 1899 und 1900 saßen beide ihre Strafe ab, ohne die Mitarbeit am „Simplizissimus“ aufzugeben. Nach der Novemberrevolution 1918 blieb die Festung Königstein noch einmal für kurze Zeit ein Ort für politische Gefangene. 1919 traf es 50 Funktionäre der KPD und der USPD, unter ihnen Fritz Hecken aus Chemnitz als Mitbegründer der KPD. Eingesperrt im Obergeschoss des Alten Zeughauses, konnte er am 25. September 1919 die Festung wieder verlassen. Ende Dezember 1919 wurde Hecken erneut verhaftet und auf den Königstein gebracht. In Sachsen herrschte Belagerungszustand. Es wurde aber gegen ihn kein Prozess eingeleitet und auf Weisung der sächsischen Regierung wurde er am 10. Januar 1920 wieder entlassen.
Drei Mal in ihrer Geschichte wurde die Festung zum Kriegsgefangenenlager. Während des deutsch-französischen Krieges 1870/1871 kamen nach der Schlacht von Sedan am 2. September 1870 493 französische Kriegsgefangene und im November 1870 nochmals 200 Franzosen auf die Festung. Sie wurden im Neuen Zeughaus, in der Magdalenenburg und in den Kasematten untergebracht. Bei karger Verpflegung mussten sie körperlich schwere Erdarbeiten beim Bau von Batteriewällen verrichten.
Im Verlauf des Ersten Weltkrieges 1914 bis 1918 kamen französische und russische Offiziere als Kriegsgefangene auf den Königstein.
Während des Zweiten Weltkrieges 1939 bis 1945 wurde die Festung zum dritten Mal Kriegsgefangenenlager. Zunächst kamen gefangengenommene polnische Offiziere auf den Königstein. 1941 wurde dann das Offiziersgefangenenlager IV B (Oflag IV B) für 98 französische Generäle und höhere Offiziere eingerichtet. Sie durften nach den Bestimmungen der Genfer Konvention relativ gut und freizügig leben. Spaziergänge, Tagesausflüge, Kinobesuche, eigene Theateraufführungen waren möglich. Da blieb es nicht aus, dass einige Kriegsgefangene Fluchtversuche unternahmen, von denen die meisten scheiterten.
Aber einem General gelang die spektakuläre Flucht, die bald Gerüchte aufkommen ließ. Es war der 63-jährige General Henri-Honore Giraud, der sich am 17. April 1942 gegenüber der Hinrichtungsstätte des Barons von Klettenberg über die Brustwehr abseilte.
Bevor die Festung ab Juni 1955 ein großes Museum wurde, diente sie von 1949 bis Mai 1955 als Jugendwerkhof. Für 200 Mädchen und Jungen, die zum Teil ihr Zuhause verloren oder sich strafbar gemacht hatten, wurde die Festung zu einer Stätte stalinistisch geprägter Erziehung.
Fassen wir kurz zusammen: Die mitunter auch „Sächsische Bastille“ genannte Fes tung Königstein diente über Jahrhunderte hinweg als Sächsisches Staatsgefängnis. Das (allerdings unvollständige) Gefangenenverzeichnis der Festung nennt für die Zeit zwischen 1591 und 1922 die Lebensdaten und Vergehen von 993 Häftlingen. Sie entstammten allen Bevölkerungsschichten von den ärmsten bis hin zu den adligen Kreisen und waren für alle möglichen Vergehen von Kavaliersdelikten (z. B. illegalen Duellen) über Majestätsbeleidigung bis hin zum Hochverrat auf dem Königstein gefangen gehalten worden. Haftzellen waren in der Georgenburg, die ab Beginn des 18. Jahrhunderts fast nur noch als Gefängnis diente, im Alten Zeughaus, im Brunnenhaus, in der Magdalenenburg und zeitweise auch in den Kasematten eingerichtet. Viele der Gefangenen wurden zu Bauarbeiten auf der Festung herangezogen.
Einige der bisher genannten Personen und weitere Inhaftierte auf der Festung wollen wir nun ausführlicher betrachten.
Der Adel schlägt zurück
Eintrag Nummer 1 des Gefangenenverzeichnisses lautet: N.N. Crell, eingeliefert am 18.01.1591 wegen Calvinismus bis zum 04.10.1601. Wer war dieser Crell (nach unserer Schreibweise Krell geschrieben)?
Er war ein verantwortungsbewusster, liberaler Politiker, der an der Schwelle zum 17. Jahrhundert, als Mitteleuropa durch Religionskämpfe erschüttert wurde, den Ausgleich suchte. Unter der Regierung des Kurfürsten Christian I. von Sachsen (1586-1591) bekam dieser Mann, sein Kanzler, freie Hand, den europäischen Humanismus der Renaissance direkt an die Aufklärung anzuschließen. Nikolaus Krell starb am 9. Oktober 1601. Über seine Hinrichtung gibt es viele Bücher, über seine Leistungen kaum eine Zeile. Er war einer, der ungefragt das europäische Kräfteverhältnis verändern wollte.
Nikolaus Krell wurde 1550 in Leipzig geboren – leider zu früh. Sein Vater war Ratsherr und Rechtsanwalt. Der Sohn folgte dem Beispiel. Nach der Fürstenschule in Grimma kam die Universität Leipzig. Die Würde eines Dr. iur. erwarb Krell 1577/78 an den Universitäten von Valence und Genf. Dort lernte er die Sicht des Calvin-Nachfolgers Breda und die der Jesuiten kennen und schätzen. Wieder in Leipzig, wurde Krell zum Professor berufen. Eine Bilderbuchkarriere. Bereits 1580 war Krell Erzieher des Kurprinzen Christian.
Aus seinen Ansichten machte Krell nie ein Hehl. Genau das brachte die gesamte orthodoxe lutherische Geistlichkeit gegen ihn auf. Sie hatte nach langen Lehrstreitigkeiten sämtliche strittigen Punkte in einem Dogma zusammengefasst, das alle sächsischen Staatsdiener zu unterschreiben hatten. Die Anhänger des liberalen Melanchthon waren 1574 aus Sachsen vertrieben worden, weil sie die Verschiedenheit und das Nebeneinander der Auffassungen erlaubten. Sie sahen in Krell nun einen Hoffnungsträger. Christian I. erklärte tatsächlich 1586 in der ersten Amtshandlung: „Ich will nur Christianus sein!“ Da diese Festlegung gegen das Konkordienluthertum ge richtet war, führte das auch zur tödlichen Feindschaft Krells mit der Kurfürstin Sophie.
Christian I. hatte durch Krells Einfluss bereits frühabsolutistische Herrschaftszüge im Auge, d. h., Schul-, Personal-, Wirtschafts-, Kirchen- und Außenpolitik gingen allein vom Landesfürsten aus. Die Geistlichkeit sollte ebenso weitgehend entmachtet werden wie der Adel und dagegen das Bürgertum gestärkt. 1587 wurde die Konkordienformel aufgehoben. Nun konnten auch Katholiken und Calvinisten angestellt