Fakemedizin. Christian Kreil
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Die Medizin ist eine recht pragmatisch agierende Wissenschaft. Sie sucht sich aus dem Potpourri der Naturwissenschaften zusammen, was sie benötigt. Der Anästhesist stünde ohne Chemie auf verlorenem Posten, kein Medikament könnte entwickelt werden ohne die Grundlagen der Biologie, die Behandlung abgenützter Bandscheiben wäre ohne die Basics der Physik schwierig. Und sogar die Materialwissenschaftler von der Technischen Universität, die ansonsten an Leichtbauteilen für Flugzeuge tüfteln, können mit ihrer Expertise ein wenig dazu beigetragen, haltbare und verträgliche Legierungen für die bereits angesprochene künstliche Hüfte unserer Großmutter zu entwickeln. Und natürlich vergessen wir nicht die Psychologie, die ein wenig zu erhellen vermag, was sich in unserem Kopf abspielt, wenn wir mit Krankheiten kämpfen. Die Psychosomatik ist weder aus der medizinischen Forschung noch aus der Praxis wegzudenken. Kein ernst zu nehmender Mediziner leugnet die Bedeutung unseres Denkens, unsere Lebenseinstellung, psychischer und sozialer Umstände für die Entstehung von Krankheiten und für die Genesung.
Der Begriff »Schulmedizin« wäre – wenn überhaupt – auf die Homöopathie anzuwenden. Die Homöopathie beharrt nämlich auf den Prinzipien, die ein Arzt vor mehr als 200 Jahren postulierte, so, als hätte sich die Welt seit damals nicht mehr weitergedreht. Würde die Medizin ähnlich wie die Homöopathie einer Schule im Wort sein, dann wünsche ich uns viel Spaß im Krankenhaus: Dann würden wir heute bei fast allen Krankheiten mit den Therapien der Zeit vor 200 Jahren behandelt werden. Die waren in der Regel grauslich, schmerzhaft und nicht wirksam: Aderlass, künstlich herbeigeführtes Erbrechen und durch allerlei Mittelchen provozierte Durchfälle. Wir können beruhigt sein, in den letzten 200 Jahren hat sich einiges getan in der evidenzbasierten Medizin.
Was heißt eigentlich »Schulmedizin«?
1832 tauchte die Bezeichnung »Mediziner der Schule« erstmals auf. Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, bezeichnete damit abfällig Ärzte, die seiner Theorie nicht folgen wollten. Hier sei eine kleine Fußnote gestattet. Im Vergleich zu dem, was die »Schulmedizin« zur Zeit Hahnemanns an Therapien offerierte, war die Homöopathie durchaus ein Fortschritt. Besser als Patienten sich die Seele aus dem Leib zu kotzen und sie zur Ader zu lassen, waren die wirkungslosen Mittel Hahnemanns wohl allemal.
Das von Homöopathen geprägte Wort »Schulmedizin« erhielt durch den Nationalsozialismus einen neuen und durchaus nachhaltigen Drive. Ein kurzer Disclaimer: Ich verfolge mit den Ausführungen auf den folgenden Seiten nicht die Absicht, Anwender oder Kunden von Fakemedizin in ein rechtes Eck zu stellen. Was ich den Lesern nicht ersparen kann, ist der Nachweis dafür: Das Wort »Schulmedizin« hat eine eindeutige Geschichte, und wir müssen uns davon verabschieden, den Begriff wertneutral verwenden zu können.
In den Jahrzehnten, in denen die Nazis ihre rassistischen Ideen zu spannen und die braunen Truppen ihre Stiefel zu schnüren begannen, gelangen der medizinischen Forschung bahnbrechende Entwicklungen. Paul Ehrlich gelang im Jahr 1909 die erste medikamentöse Behandlung von Syphilis – das war der Grundstein für das, was wir heute als Chemotherapie kennen. 1923 wurde der erste Impfstoff gegen Diphterie entwickelt. Die Entdeckung des Penicillins durch Alexander Fleming in den späten zwanziger Jahren kam ein gutes Jahrzehnt zu spät – es hätte in den Lazaretten des Ersten Weltkriegs hunderttausenden Verwundeten das Leben gerettet.
Der Blut- und Boden-Ideologie der Nazis war die Medizin und deren Forschung allerdings suspekt. Sie entsprach nicht dem, was die vermeintlichen Herrenmenschen von einer Medizin erwarteten: Eine Medizin habe, so der perverse Gedanke der Braunhemden, der arischen Rasse zugutezukommen und ganz besonders dem deutschen Volk. Dass an den Universitäten viele jüdische Mediziner erfolgreich wirkten, verstärkte den Hass der Nazis auf die Wissenschaft.
Was die Medizin in jener Zeit erforschte, hatte das Potenzial – auch wenn es etwas pathetisch klingt –, der gesamten Menschheit von Nutzen zu sein. Bakterien und Viren scheren sich bekanntlich einen Dreck um die Nation des Körpers, in dem sie sich ausbreiten, und das Blut kennt definitiv weder eine überlegene noch eine minderwertige Rasse. Die Schutzimpfung für den Arier in den Kolonien schützte auch den »Buschmann«, und ein »Primitiver« – so er geimpft wurde – schützte den deutschen Herrenmenschen.
Doch die Nationalsozialisten erwarteten etwas ganz anderes von der Medizin: Forschung für den deutschen »Volkskörper« und nicht für angeblich unterlegene Völker. Die wissenschaftliche Medizin stand unter den Nationalsozialisten schnell als »verjudete Schulmedizin« am Pranger. Konnte kein jüdischer Forscher als Hintermann einer Entwicklung ausfindig gemacht werden, tat es auch der Begriff »marxistische Schulmedizin«, um die aus der Sicht der Nazis nivellierende Heilkunde und sozialmedizinische Ansätze zu diskreditieren.
Wir ahnen es: Die Nazis entwickelten ein Faible für »Alternativmedizin«. 1933 verkündete Reichsärzteführer Gerhard Wagner im Deutschen Ärzteblatt die »häufige Überlegenheit« der »Alternativmedizin« gegenüber der »Schulmedizin«. Der deutsche Arzt und Autor Erwin Liek – ein glühender Anhänger von Euthanasie und Eugenik – brachte das Credo der willfährigen Mediziner seiner Zeit auf den Punkt: »Es ist mein Glaube, dass das deutsche Volk berufen ist, nach und nach eine ganz neue, rein deutsche Heilkunst zu entwickeln.«4 In dieser sollten »das Heilwissen der Heilpraktiker und das Heilwissen der ›Schulmediziner‹« eine neue Synthese eingehen.
Das kommt uns bekannt vor. Der Begriff »Schulmedizin« kommt heute ohne den Zusatz »verjudet« aus, pejorativ verwendet wird das Wort dennoch. Das Wort »Schulmedizin« hat den Anspruch darauf, ideologiefrei verwendet zu werden, verloren. Auch dann, wenn Homöopathiefreunde, anthroposophische Ärzte und die sprichwörtliche Anti-Vax-Mom aus dem Boboviertel es ideologiefrei verwenden wollen. Zwischen den Zeilen und in unterschiedlichsten Chiffren schwingt bei der Abneigung gegen die »Schulmedizin« oftmals mit, was die Nazis der »verjudeten Schulmedizin« vorwarfen.5
Das ist vielen, die den Begriff »Schulmedizin« verwenden, natürlich nicht bewusst. Treibt man es auf die Spitze, so lassen sich auch ideologische Gemeinsamkeiten im Denken von Fakemedizin und Nationalsozialismus feststellen: Die Feindseligkeit gegenüber Wissenschaftlichkeit und Evidenz und die Nonchalance im Umgang mit Fakten. Eine bizarre Fußnote des braunen Wissenschaftsverständnisses macht das deutlich: Die Nazis haderten nicht nur mit der »Schulmedizin«, sondern tatsächlich auch mit der »Schulphysik«. Der »jüdischen Relativitätstheorie« Albert Einsteins wollte man eine »arische Physik« entgegenstellen, die auf dem »unverbildeten deutschen Volksgeist« beruhen sollte. Wer heute Einstein infrage stellt oder auch nur das Wort »Schulphysik« verwendet, wird wohl bei jedem Frühschoppen dieser Welt aus der Gaststube gelacht.
Der »unverbildete Geist«, den die Nazis ersehnten, taucht immer wieder auf. Der österreichische Allgemeinmediziner Klaus Bielau behauptete im Sommer 2019 in einer ORF-Dokumentation zum Thema Impfen allen Ernstes, »aus einer konsequent ganzheitlichen Sicht gibt es die Theorie der Ansteckung nicht«.6 Bielau ist – und das ist bezeichnend – überzeugter Impfgegner. Dieses Soziotop stellt – im übertragenen Sinn – so etwas wie den »bewaffneten Arm der ›Alternativmedizin‹« dar. Die Schnittpunkte der Seuchenfreunde mit der rechten Szene sind bestens dokumentiert. Impfgegner aus alternativen, grünen und veganen Milieus reagieren in der Regel verschnupft bis empört, wenn sie auf diese Geistesverwandtschaft angesprochen werden. Allerdings gedeiht die Attitüde der Seuchenfreunde nicht im ideologischen Vakuum. Die Anti-Vax-Mom der Gegenwart, die ihr Kind mit keinem »Giftcocktail« von Big Pharma »vollspritzen lassen« will, stand schon 1933 Modell – in einem Sonderdruck des Nazi-Hetzblatts Stürmer. Die Anti-Vax-Mom der Nazis ist blond und hält ein deutsches Baby auf dem Arm. Der »naturferne und verirrte Mediziner« hat eine Spritze in der Hand und eine Hakennase, und er lächelt offenkundig verlogen. Der Stürmer legt der Frau die Worte in den Mund: »So ist mir sonderbar zumut – Gift und Jud tut selten gut.«
Impfungen gegen ansteckende Krankheiten sind Medizin und Signal zugleich: Der »Untermensch« schützt