Fakemedizin. Christian Kreil
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Maserntote von heute sind nicht etwa Opfer einer Impfmüdigkeit, die von den Seuchenfreunden und derer hartnäckiger Anti-Impf-Propaganda mitverursacht wurde. Die Opfer hätten – Impfungen hin oder her – ohnehin eine zu »schwache Konstitution«. Mit anderen Worten: Die Natur putzt aus, die Schwachen bleiben zurück und werden aussortiert. Die Krankheiten der eigenen Kinder werden als Stahlbad eines natürlichen Erwachsenwerdens verklärt.
Ganz offen antisemitisch argumentieren heute die Anhänger der »Germanischen Neuen Medizin« (GNM). Die Juden – so der geschmacksbefreite Narrativ dieser Esoterik-Sekte – würden mit Impfungen und Chemotherapien einen »Holocaust am Deutschen Volk« begehen. Bei sich selbst und daheim in Israel hüteten die Juden sich vor dem Teufelszeug – behaupten zumindest die Jünger des im Jahr 2017 verstorbenen Gurus Ryke Geerd Hamer. Die »GNM« mag eine »alternativmedizinische« Randgruppe mit zahlenmäßig relativ wenigen Anhängern sein. Die Lehre Hamers wird allerdings auch von »gemäßigten« Alternativmedizinern wohlwollend zitiert. Der Autor und Guru Rüdiger Dahlke schreibt, dass seine »Krankheitsdeutungen« zu »drei Viertel« mit Hamers Thesen übereinstimmen. Dahlke ist nicht irgendjemand. Er ist Bestsellerautor und hat sich mit flachen Metaphern zu schweren Krankheiten einen Namen gemacht – je nach Sichtweise – als Doyen »alternativmedizinischer« Weisheit oder als banaler Kalauer-Mediziner.7 Dahlke empfiehlt der »Schulmedizin« generös eine »vorbehaltlose Überprüfung der Thesen Hamers«. Wir empfehlen, das Wort »Schulmedizin« samt seines Ballasts auf dem Misthaufen der Geschichte zu entsorgen. Wir haben ein wunderschönes Wort für Arzneien und Behandlungen, die wirken und helfen: Medizin.
1 per E-Mail, 4. September 2020
2 C. Tomasetti/B. Vogelsterin, Variation in cancer risk among tissues can be explained by the number of stem cell divisions, 2015
3 R. Dahlke, Krankheit als Symbol, 1996, S. 37
4 W. Gerabek, Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin/New York, 2004, S. 47
5 https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/schulmedizin-und-arische-physik/
6 ORF 1, Immun gegen Fakten. Die wundersame Welt der Impfgegner, 22. April 2020
7 https://youtu.be/oIICv4ln44Q ODER: Welt im Wandel TV, Rüdiger Dahlke, Krankheit als Sprache der Seele, 6. Oktober 2015
Warum funktioniert der faule Zauber?
Das hätten wir geklärt: Es gibt also keine »Alternativmedizin«, und mit dem Begriff »Schulmedizin« samt seiner ideologischen Last haben wir aufgeräumt. Was nachweislich hilft und heilt, ist Medizin, was nicht hilft oder keine Wirkung hat, ist Fakemedizin. Mit diesen Feststellungen sind die Würfel aber noch nicht gefallen, wir können die Augen nicht vor der Realität verschließen. Fakemedizin wird nachgefragt, sie ist erfolgreich am Markt und in aller Munde, sie wird in den Medien oftmals kritiklos als sanfte Alternative präsentiert und gelobt.
Fakemedizin wird aber nicht deswegen nachgefragt und angewandt, weil sie wirksam oder erfolgreich wäre. Fakemedizin erfüllt offensichtlich Bedürfnisse, die außerhalb des objektiv Feststellbaren und Messbaren liegen, und die nichts mit Heilung zu tun haben,
Das »wilde Denken« lässt uns nicht los
Kehren wir noch einmal kurz zu den eingangs erwähnten Zande im zentralafrikanischen Südsudan zurück. Wir müssen dazu eine kleine Zeitreise unternehmen und uns in ein Afrika vor knapp 100 Jahren zurückdenken. Irgendwo an der Wasserscheide der beiden Ströme Nil und Kongo lebten und leben die Zande. Das Dreiländereck von Zentralafrikanischer Republik, dem Südsudan und der Republik Kongo ist auch heute noch ein wenig abseits gelegen. Die Zande waren vor knapp 100 Jahren jedenfalls noch eine Gesellschaft ohne nennenswerte Kontakte zur sogenannten Zivilisation, wie wir sie kennen. Auch nachdem die Kolonialmächte ihre Pflöcke in die rote Erde des schwarzen Kontinents schlugen und die Kirchen ihre ersten Missionen eröffneten, ging es im Land der Zande sehr langsam voran mit der Modernisierung. Vor nicht ganz 100 Jahren verbrachte der britische Ethnologe Edward Evan Evans-Pritchard zwei Jahre bei den Zande. Er war es auch, der den Zauber des Medizinmannes beobachtete, der den Sonnenuntergang mit einem Stein in einer Astgabel verzögern wollte. Und das war beileibe nicht der einzige Zauber, den der Forscher bei den Zande dokumentierte. Evans-Pritchard hielt fest: »Mangu, Hexerei, das war eines der ersten Worte, die ich bei meinem Aufenthalt im Zandeland hörte. Und von nun an sollte ich es jeden Tag hören.«1
Dieses Schicksal teile ich mit dem britischen Sir. Ich höre auch jeden Tag etwas von Mangu. Bei uns heißt Mangu Homöopathie, Bioresonanztherapie oder Informationsmedizin.
Evans-Pritchard schrieb nach seinem Aufenthalt im Südsudan das Buch Hexerei, Magie und Orakel bei den Zande, es gilt als Meisterwerk der Ethnologie. Das 1937 erschienene Werk ist aus mehreren Gründen interessant: Evans-Pritchard begegnet den Objekten seiner Forschung mit Respekt. Das ist beachtlich für die damalige Zeit. Der Ethnologe beschreibt die Zande als ausgesprochen heitere und freundliche Menschen, mit denen es sich gut plaudern lässt. Er begegnet seinen Forschungsobjekten auf Augenhöhe und kanzelt die Zaubereien und Hexereien, von denen die Zande ausführlich und gern erzählen, nicht als Zeugnisse von »Primitivität« oder »Wildheit« ab.
Allerdings, und das ist der ganz entscheidende Punkt: Obwohl er die Praktiken der Medizinmänner und der Hexer detailliert schildert, gibt Evans-Pritchard niemals zu verstehen, dass er der Zauberei und dem Wirken der Medizinmänner Glauben schenkt. Später sollte man Evans-Pritchards bahnbrechende Arbeit so charakterisieren: Ihm sei als Erstem der Versuch gelungen, »fremde Denksysteme auf ihre eigene Logik hin zu untersuchen«.
Und die Logik der Zande rund um ihre Medizinmänner lässt sich rational erklären. Evans-Pritchard stellt die richtigen Fragen dazu. Eine davon lautet: Warum glauben die Menschen bei den Zande dem – aus unserer Sicht offensichtlich falschen – Zauber? Um auf das Beispiel mit dem verzögerten Sonnenuntergang zurückzukommen – es gibt einen recht banalen Grund dafür, dass die Zande dem Glauben schenkten: Die Zande hatten vor 100 Jahren keine Uhren. Sie hatten auch keine andere Methode zur Messung von Zeit. Sie hatten nicht einmal eine Vorstellung, dass es so etwas wie eine Uhr geben könnte, und sie hatten – und das macht sie durchaus sympathisch – offenbar auch kein Verlangen nach einer Uhr. Und das ist einer der Gründe dafür, dass der Medizinmann im Land der Zande leichtes Spiel hat bei seinem Spiel mit der Sonne und der Zeit.
So gut wie niemand aus dem Volk der Zande hatte vor 100 Jahren eine Möglichkeit, mal schnell in eine Bibliothek zu spazieren, um sich über Aberglauben und Magie schlauzumachen. Die Zande konnten nicht einmal wissen, dass es Bibliotheken gibt. Niemand hatte die Möglichkeit, ein Experiment zu wagen und dem Medizinmann zu sagen: »Hey,