Das achtsame Gehirn. Daniel Siegel
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Klarheit über diese verschiedenen Wege des Wissens zu haben ist bei unserem Vorgehen äußerst wichtig – subjektive Erfahrung, Wissenschaft und professionelle Anwendungen sind drei gesonderte Einheiten im Rahmen des gesammelten Wissens, und wir werden sie als eigenständige Dimensionen der Realität beibehalten müssen, damit dieses integrative Bemühen gültig und von Nutzen sein kann. Eine vorzeitige Vermischung dieser drei Elemente kann zu falschen Schlussfolgerungen über Subjektivität, zu wissenschaftlichen Fehlinterpretationen und zu falschen Anwendungen dieser Ideen in der klinischen Praxis und im Erziehungswesen führen. Wir stellen diese Ideen, Erfahrungen und Forschungsergebnisse also zuerst vor und werden dann bereit sein, ihre Synthese „sauber“ anzuwenden auf die wichtige Arbeit, anderen Menschen dabei zu helfen, zu lernen, zu wachsen und ihr Leiden zu lindern. Wenn wir sie zu schnell vermischen, um „zum Praktischen“ zu gelangen, dann laufen wir Gefahr, die Wege zu verwechseln, auf denen wir dazu gelangt sind, unsere Vision des Geistes und des Augenblicks zu verwirklichen.
Um diese angestrebte Klarheit zu erreichen, ist dieses Buch in vier Teile gegliedert. Im einführenden Teil wird ein Überblick über das achtsame Gewahrsein gegeben, und es wird untersucht, warum es von Nutzen ist, sich dem Gehirn zuzuwenden, wenn man das Wesen des Geistes selbst erhellen möchte. Im zweiten Teil werden wir direkte Erfahrungen erforschen und die Unmittelbarkeit des Moments sehen, auf die die retrospektive Analyse anderer nur von weitem verweisen kann. Der Sinn und Zweck dieser praxisorientierten Kapitel besteht darin, die Essenz der Achtsamkeit zu erforschen und das, was dieser im Wege steht und uns davon abhalten könnte, in unserem Leben präsent zu sein. Wir werden erforschen, wie diese Form, bewusst zu sein, durch absichtsvolles Training erreicht werden kann, durch das der Geist von automatischen Einmischungen befreit wird.
Im dritten Teil erforschen wir verschiedene Facetten des achtsamen Gehirns, die sich aus diesem erfahrungsbezogenen Sichversenken sowie aus den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Literatur und der Fachliteratur ergeben. Wir werden die Lektionen, die aus der direkten Erfahrung gewonnen wurden, mit einem Überblick über jene Forschungsarbeiten kombinieren, die es bereits über das Gehirn und das Wesen des Geistes gibt. Mit dieser Synthese wird der Versuch unternommen, die subjektiven und objektiven Dimensionen, unser Leben zu verstehen, miteinander zu verweben.
Im vierten Teil werden wir noch intensiver über die Implikationen und Anwendungsmöglichkeiten dieser Perspektiven des achtsamen Gehirns für Bildung und Erziehung, für die klinische Arbeit und für die Psychotherapie nachdenken. Diese Anwendungsmöglichkeiten werden auf dem Vorhergehenden insofern aufbauen, als wir Subjektivität und Wissenschaft mit praktischen Anwendungsmöglichkeiten im täglichen Leben verbinden. In diesem Teil werden einige vorläufige Ideen dazu angeboten, wie man diese Konzepte der inneren Einstimmung in die praktische, tagtägliche Verwendung des achtsamen Gewahrseins in unseren professionellen und persönlichen Bemühungen integrieren könnte.
Interpersonelle Neurobiologie
Bis ins Tiefste zu verstehen, wie Beziehungen dazu beitragen, unser Leben und unser Gehirn zu formen, ist eine Leidenschaft, die mein Berufsleben geprägt hat. Seit Beginn der neunziger Jahre war ich an dem Bemühen beteiligt, einen interdisziplinären Überblick über die Natur des Geistes und der geistigen Gesundheit zu schaffen (Siegel 1999). Die Perspektive der interpersonellen Neurobiologie umfasst eine stattliche Bandbreite an Wissen, vom breiten Spektrum der wissenschaftlichen Disziplinen bis zu den expressiven Künsten und zur kontemplativen Praxis. Wir werden die Grundprinzipien dieses Ansatzes auf unsere Erforschung des achtsamen Gewahrseins anwenden.
Die interpersonelle Neurobiologie integriert Wissen aus einer Reihe von Disziplinen, um die gemeinsamen Charakteristika dieser unabhängigen Wissensbereiche zu finden. Ganz ähnlich wie in der Fabel von den blinden Männern und dem Elefanten untersucht jede Disziplin lediglich einen naturgemäß begrenzten Bereich des Elefanten (bzw. der Realität), um jene Dimension in der Tiefe und im Detail kennen zu lernen. Um jedoch das Gesamtbild zu sehen und ein Gefühl für den ganzen Elefanten zu bekommen, ist es unerlässlich, verschiedene Bereiche zusammenzubringen. Auch wenn nicht jeder Blinde der „Sichtweise“ des jeweils anderen zustimmen mag, so leistet doch jeder einen wichtigen Beitrag dazu, einen Sinn aus dem Ganzen zu konstruieren.
Und deshalb werden wir diesen integrativen Ansatz verwenden, um verschiedene Wege des Wissens zusammenzubringen und so das Phänomen Achtsamkeit auf eine vielleicht umfassendere Weise zu verstehen, als eine einzelne Perspektive das erlauben würde. Um eine Grundlage zu schaffen, werden wir also versuchen, persönliches Wissen mit wissenschaftlichen Standpunkten zu verbinden. Über diese wichtige Vermählung von Subjektivem und Objektivem hinaus werden wir Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft mit solchen aus der Bindungsforschung verknüpfen. Diese Herangehensweise lässt uns beobachten, wie der grundlegende Prozess der Einstimmung im Zustand zwischenmenschlicher Resonanz und in der vorgeschlagenen Form der intrapersonalen Einstimmung mittels Achtsamkeit im Gehirn funktionieren könnte.
Dass wir uns dem Gehirn und Bindungsstudien zuwenden, soll nicht heißen, dass wir diese beiden Disziplinen gegenüber anderen favorisieren, sie sollen uns vielmehr als Ausgangspunkt dienen. Es wird eine ganze Reihe unterschiedlicher Disziplinen zum Tragen kommen, wenn wir die Forschungen zu Gedächtnis, Erzählung, Weisheit, Emotion, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Lernen zusammen mit Erkundungen untersuchen, die tief in das subjektive, innere Erleben hineinreichen.
Ich liebe die Naturwissenschaften und bin begeistert, dass ich von den empirischen Erkundungen in die Tiefen unserer selbst und unserer Welt lernen kann. Aber ich bin ebenso Kliniker und als solcher stark von der Welt subjektiven Erlebens durchdrungen. Unsere innere Welt ist real, auch wenn sie nicht unbedingt auf eine Weise quantifizierbar ist, die die Wissenschaft häufig für eine sorgfältige Analyse verlangt. Letztes Endes lässt sich unser subjektives Leben nicht auf unser neuronales Funktionieren reduzieren. Diese innere Welt, diese subjektiven Inhalte des Geistes befinden sich im Kern dessen, was uns befähigt, den Schmerz des anderen zu spüren, einander in Zeiten der Not und Verzweiflung zu umarmen, in der Freude des anderen zu schwelgen, Sinn in den Geschichten unseres Lebens zu stiften und sich miteinander verbunden zu fühlen.
Mein eigenes persönliches und berufliches Interesse an der Achtsamkeit ist vor kurzem auf unverhoffte Weise erwacht. Nachdem ich einen Text geschrieben hatte, in dem ich erforschte, wie das Gehirn und unsere Beziehungen zusammenwirken und einen prägenden Einfluss auf unsere Entwicklung ausüben, wurde ich eingeladen, im Kindergarten meiner Tochter Vorträge über Kindererziehung und das Gehirn zu halten. Nachdem ich einige Workshops für Kinder entworfen hatte, schrieben die Kindergartenleiterin Mary Hartzell und ich ein Buch, in dem wir die „Achtsamkeit“ als unser erstes Grundprinzip festlegten. Als Pädagogen wussten wir, dass die wesentliche Gemütsverfassung eines Elternteils (oder einer Erzieherin oder eines Klinikers), der das kindliche Wohlbefinden fördern möchte, darin bestand, aufmerksam und bewusst zu sein.
Nachdem unser Buch veröffentlicht war, sprachen uns sehr viele darauf an, wie wir dazu gekommen seien, Eltern das Meditieren beizubringen. Das war eine schwierige Frage, da weder Mary noch ich in Meditationstechniken ausgebildet sind, noch wir der Überzeugung waren, dass wir Eltern „das Meditieren beibrachten“. Unserer Meinung nach war Achtsamkeit einfach die Idee, bewusst zu sein, gewissenhaft zu sein und mit Freundlichkeit und Sorgfalt zu handeln. Was wir ihnen tatsächlich beibrachten, war, wie man seine Kinder und sich selbst reflektiert, wie man sich seiner selbst und seiner Kinder bewusst ist – mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und Liebe.
Ich lerne ständig von meinen Patienten und meinen Studenten, seien sie nun Eltern