Wach werden und unser Leben wirklich leben. Jon Kabat-Zinn

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Wach werden und unser Leben wirklich leben - Jon Kabat-Zinn

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Und der einzige Weg, sie zu erkennen, ist: sich selber nicht im Weg zu stehen, sondern für einen Moment einfach innezuhalten und anzukommen. Innehalten und ankommen. Innehalten und ankommen.

      Ein sehr praktischer Weg, das zu tun, führt über ein bewusstes Erleben der Sinneswahrnehmungen.

      Wir können also experimentieren: Ist es uns möglich, genau jetzt, in diesem Moment, „bei Sinnen“ zu sein? Können wir hören – und zwar nur das, was auch wirklich zu hören ist? Können wir sehen – und zwar nur das, was auch wirklich zu sehen ist? Können wir fühlen – und zwar nur das, was auch wirklich zu fühlen ist? Ist es uns möglich, in der Tatsächlichkeit dieses jetzigen Moments aufzuwachen und in dem, was wir „unsere eigentliche Natur“ nennen könnten – was hinter all unserem Denken, unseren Vorstellungen, Perspektiven, Weltmodellen, religiösen Lehren, Philosophien, unserer Bildung usw. liegt? Denn nichts davon ist unverzichtbar für den Prozess, in dem wir ins hellwache Dasein fallen – obwohl all diese Dinge natürlich paradoxerweise auf eine schöne Weise wichtig sein können, solange man sich nicht an sie klammert. Sich nicht zu identifizieren mit irgendetwas; nicht zu sagen: „Das bin ich, das gehört zu mir, das macht mich aus“: Das ist der Schlüssel. Denn wir haben im Grunde keine Ahnung (oder eben nur vage Ahnungen), worauf sich diese Personalpronomina der ersten Person eigentlich beziehen. Deshalb steht am Anfang und am Ende aller meditativen Übungen dieses: „Wer bin ich?“, und dann folgt das Innehalten und Ankommen in Gewahrsein, im Nicht-Wissen, hinter allem Denken. Innehalten und ankommen. Wann? Wenn Sie sich daran erinnern. Wie wäre es mit jetzt? Und jetzt? Und jetzt? Nichts muss anders werden. Sie müssen nichts tun. Nur sich erinnern.

      *

      Während die Welt immer komplexer wird, unsere Tage aus endlosen Listen von Dingen bestehen, die erledigt und abgehakt werden müssen, oder aus Momenten, in denen wir aufgefordert werden, nicht bloß herumzustehen, sondern etwas zu unternehmen – da ist es sehr leicht, sich immer mehr in den Narrativen im Kopf zu verlieren, den Erzählungen darüber, was eigentlich vor sich geht, wo unser Platz in all dem ist; darüber, wo wir dereinst landen werden oder anzukommen hoffen oder im Gegenteil fürchten, eben gerade nicht anzukommen – und dabei fast völlig aus den Augen zu verlieren, welches Wunder, welche Pracht es ist, überhaupt am Leben zu sein.

      Wir konstruieren im Kopf Identitäten, „Zu-erledigen“-Listen und Zukunftspläne und verlieren uns dann in diesen Konstrukten, in unseren Realitätsmodellen und in unseren Gedanken, die, sogar wenn sie zutreffend sind, nur teilweise zutreffen, definitiv nicht hundertprozentig – und im Normalfall reicht das eben nie. An diesem Punkt angelangt, sind wir wahrscheinlich schon viel zu beschäftigt, viel zu sehr schon in die Eigendynamik dieser Geschäftigkeit verstrickt, um noch daran zu denken, dass wir auch wach sein könnten. Wir schalten so schnell in den Autopiloten-Modus – rutschen in die vertrauten ausgetretenen Pfade unseres Denkens und unserer Emotionen, verlieren uns darin, Punkt für Punkt auf unserer Liste abhaken zu müssen, und werden immer süchtiger nach den vielen Ablenkungen, die uns Smartphone, Tablet & Co. mit ihrer „grenzenlosen Vernetzung“ liefern –, dass wir aus den Augen verlieren, was direkt vor unserer Nase liegt und was jetzt gebraucht wird, und jetzt, und jetzt.

      Wenn wir Achtsamkeit kultivieren, sei es formell oder informell, können wir die Blase genau in dem Moment, in dem sie aufsteigt, platzen lassen, oder sobald wir merken, was vor sich geht. Sie kann verborgene Dimensionen unserer selbst aufdecken und wiedergewinnen helfen, die wir für unser Weiterleben dringend brauchen werden, wenn wir unserer Menschlichkeit und ihrer vollen Entfaltung treu bleiben wollen. Keine(r) von uns will eigentlich, dass auf seinem oder ihrem Grabstein steht: „Ich hätte mehr arbeiten sollen“ oder „Ich hätte mich mehr ablenken lassen sollen“, aber in der Art und Weise, wie wir unsere Energien einsetzen, und in der Summe aller unserer verpassten Gelegenheiten leben wir genau so. Achtsamkeit kann ein Gegengewicht gegen all das sein, ohne es gewaltsam zu stoppen. Nur wir müssen stoppen, und nur für diesen zeitlosen Moment.

      Da dieses Buch davon handelt, wie man im alltäglichen Leben Achtsamkeit praktiziert, stellen wir eines am besten gleich klar: Es gibt kein Leben außer dem alltäglichen.

      Nichts wird aus dem alltäglichen Leben ausgegrenzt, auch nicht all die Gedanken und Emotionen, die wir jeden Moment haben, unabhängig von der Situation. Im Wesentlichen findet alles, was entsteht, in der Sphäre unseres Lebens statt. Und deshalb wird es in diesem Moment Teil des „Achtsamkeits-Lehrplans“, könnte man sagen. (Und wenn es immer wieder auftaucht, wird es in vielen, vielen Momenten Teil des Lehrplans, denn manchmal lässt der Lehrplan uns einfach nicht gehen.) Letztendlich kann jeder Moment unseres Lebens zur Kultivierung von Achtsamkeit beitragen, nicht nur die Tageszeit, die wir für formelle Meditation reserviert haben. Das Leben selber wird zum Lehrplan. Das Leben selber wird zur Meditationspraxis.

      Darauf läuft es im Wesentlichen hinaus, wenn wir Achtsamkeit kultivieren und zur „Be-Sinn-ung“ kommen wollen (das ist sowohl wörtlich als auch metaphorisch gemeint). Wenn wir nur dieses eine Leben zu leben haben – wollen wir es wie Schlafwandler verbringen, verloren in Gedanken und Geschichten und Emotionen? Oder wollen wir Wege finden, wach zu werden für die Fülle jedes Augenblicks und dessen, was er bereithält, wenn wir ihn – und uns – nur annehmen und berühren, egal, was in einem einzigen Moment oder im Laufe eines Tages alles entsteht? Dieses Buch lädt Sie zu einem Training ein (und ich sollte sagen, „uns“, denn ich bin keine Ausnahme, und wir arbeiten in diesem Forschungsabenteuer zusammen, so wie Millionen andere, die sich dafür entscheiden, ihr Leben in diese Richtung zu orientieren), im Laufe eines Tages immer wieder ins hellwache Dasein zu fallen. Und es auch zu bestimmten Zeiten in einem formelleren Rahmen zu üben, indem man bestimmte Zeiten reserviert, die allein dem Dasein gewidmet sind, in denen es keine Agenda gibt, was zu tun oder zu erledigen wäre (auch keine geheime Agenda, besser meditieren zu lernen!). Die Fülle Ihres Erlebens ist in jedem Moment vollständig, also lässt sie sich nicht verbessern. Die Herausforderung lautet immer: Können wir voll bei der Sache sein, dafür da sein, darin sein, bis wir erkennen, dass alles, was sich in einem gegebenen Moment entfaltet, der Lehrplan dieses Moments ist? Und somit erkennen, was in einem alten Cartoon des „New Yorker“ ein Mönch zu Beginn der Meditation zum anderen sagt: „Es passiert nichts. Genau darum geht’s.“

      Vom Anfang bis zum Ende werden wir auf den Seiten dieses Buches lebendige, leibhaftige Achtsamkeit kultivieren. Jedes Kapitel bildet auf gewisse Weise eine andere Tür in denselben Raum: den Raum Ihres Gewahrseins. Jede Eingangstür – und natürlich auch jeder Ihrer Sinne – hat ihre eigenen, ziemlich staunenswerten Eigenschaften. Der verbindende Faktor der Praxis ist jedoch, dass der Raum, den wir betreten, der Raum unseres eigenen Gewahrseins ist, egal, durch welchen Eingang wir gekommen sind. Wir nehmen unseren Platz ein – im wörtlichen wie im metaphorischen Sinne – und erden uns in der Praxis, ohne das, was Moment für Moment in unserem Erleben entsteht, zu bearbeiten oder zu beurteilen. Wir tun das, so gut wir können, ohne uns in Fragen zu verstricken, ob unsere meditative Erfahrung „gut“ ist oder ob unsere Erfahrung so ist, wie sie „sein soll“. Wenn Sie etwas erleben und sich dessen bewusst sind, dann ist das, was Sie erleben, für diesen Moment perfekt – perfekt als das, was es ist.

      Die wirkliche Frage ist: „Welche Beziehung werden Sie zu dem haben, was sich im jeweiligen Moment entfaltet – der immer der jetzige Moment ist?“ Mit anderen Worten: Können Sie das, was Sie erleben, im Gewahrsein halten, ohne es auf irgendeine Weise zu beurteilen oder eine Geschichte über Ihr Erleben – sei es angenehm, unangenehm oder neutral – zu erfinden, die Sie schließlich selber glauben? Die Bereitschaft, in ruhigem Gewahrsein bei dem zu verweilen, was Ihr Erleben im Moment ausmachen mag (erwünscht, unerwünscht oder nahezu unbemerkt; angenehm, unangenehm oder weder noch), lädt zu einer ganz neuen Art von Beziehung zu unserem Erleben ein (wozu auch gehört, wie viel wir urteilen und werten!). Dies bringt eine neue Möglichkeit mit sich, einen Raum der Freiheit zu bewohnen, der viel größer ist als Vorlieben und Abneigungen und bevorzugte Ansichten, wie die Welt ist (oder nicht ist). Und somit lädt es Sie dazu ein, zu sein, wer und was Sie sind, und wenn es nur für einen kurzen Moment ist: jenseits Ihres Namens, jenseits von „Das ist

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