Wach werden und unser Leben wirklich leben. Jon Kabat-Zinn
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Was Sie entdecken werden, ist kein Geheimnis, und doch ist es gleichzeitig eine versteckte Goldmine. Es ist Ihr eigenes Gewahrsein, das sich einen klaren Blick und damit größere Weisheit zu eigen macht. Es ist Gelassenheit und somit eine unerschütterliche Stabilität im Geist und im Herzen, die von tiefer Fürsorge und Anteilnahme getragen wird. Es ist eine angeborene Liebesaffäre mit dem Leben, jenseits unserer viel zu beschränkten Erzählungen, wer wir seien und wie die Welt sei. Wie wir in „Meditation ist nicht, was Sie denken“ gesehen haben, ist das Begreifen, wer und was wir in unserer Fülle tatsächlich sind, und wie und was die Welt in ihrer Fülle tatsächlich ist, ein radikaler Akt der Liebe und geistigen Klarheit. Und dies macht uns offen für die Möglichkeit, in dieser Welt zumindest ein bisschen klüger zu handeln und dadurch die Heilung und Transformation und Befreiung zu erleben, die solch ein Handeln begleiten, Moment für Moment, Tag für Tag.
Die Empfehlung lautet also: Stürzen Sie sich, als gäbe es kein Morgen, als hinge Ihr ganzes Leben davon ab, in die formellen und informellen Übungen, die dieses Buch anbietet. Denn Ihr Leben hängt tatsächlich auf vielfältige, sehr reale und entscheidende Weise davon ab. Genauso wie das volle Potenzial Ihrer Präsenz und Wirksamkeit in der Welt, in der Familie, in dem, was Sie unternehmen, ja, selbst in Ihrem Körper und wie Sie sich in der Welt betragen (und wie Ihr Körper Sie trägt).
Dieses Engagement erfordert eine gewisse Disziplin und Entschlossenheit. Wenn es Ihnen irgendwie möglich ist, so schaffen Sie jeden Tag – ob Sie Lust haben oder nicht – Ihren Hintern sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne auf ein Meditationskissen oder einen Stuhl oder ein Bett und belassen Sie ihn da – gerne auch ein bisschen länger, als Ihnen lieb ist. Es bedeutet, das unvermeidliche Unbehagen, die Ungeduld, die Langeweile, die sprunghaften Gedanken, den Ärger und überhaupt alles willkommen zu heißen, was aufkommt. Es bedeutet, all das einzuladen, damit es Ihre Lehrerin wird und Ihnen gestalten hilft, wie Sie sich dazu verhalten wollen – zum Erwünschten und zum Unerwünschten, zum Angenehmen und zum Unangenehmen, zum Leichten und zum Schwierigen. Das ist keine Folter (obwohl es sich manchmal so anfühlen kann), sondern Freiheit – die Freiheit, nicht verstrickt, ja womöglich gefangen zu sein in den eigenen Vorlieben und Abneigungen oder den endlosen Geschichten, die nie so ganz stimmen. In diesem Spiegel wacht der Geist auf. Er lernt sich selbst kennen, sich selbst und allem Erleben zum Freund zu werden. Und in diesem Prozess werden Sie selbst, so wie Sie sind, zur Verkörperung dieses Wissens. Durch diesen Prozess werden Sie viel besser wissen, wie einfach Dasein geht, und wenn Handeln gefragt ist, was zu tun ist.
Viel Spaß! Und bleiben Sie in Kontakt! Vor allem mit sich selbst. Seien Sie gewiss, dass Sie nicht allein sind bei diesem Unterfangen, auf vielfältige Art und Weise Wachheit zu kultivieren. Wir sitzen alle in diesem Boot, geben unser Bestes, lassen uns, so gut es geht, auf die formelle und informelle Praxis ein und sehen und begreifen, was herauskommt und wie es im Moment ist.
Jon Kabat-Zinn
Berkeley, Kalifornien
20. Februar 2018
1 Es sei denn, Achtsamkeit ist in den Schulen in Ihrer Gegend Teil des Lehrplans, was hierzulande und weltweit zunehmend der Fall ist.
2 Siehe: Teasdale, John und Chaskalson, M.: How Does Mindfulness Transform Suffering II: The Transformation of Dukkha. In: Williams, J. und Kabat-Zinn, J. (Hg.): Mindfulness: Diverse Perspectives on Its Meaning, Origins, and Applications. Milton Park, UK: Routledge, 2013, S. 103–124.
Erster Teil
Die Welt der Sinne:
dein einziges, wildes, kostbares Leben
Wer hat die Welt gemacht?
Wer hat den Schwan und den schwarzen Bären gemacht?
Wer hat den Grashüpfer gemacht?
Ich meine diesen Grashüpfer hier –
den, der sich gerade aus dem Gras katapultiert hat,
der jetzt Zuckerkörnchen aus meiner Hand frisst,
der seine Kiefer nicht auf und ab bewegt, sondern vor und zurück –
der sich umschaut mit riesigen und komplizierten Augen.
Jetzt hebt er seine blassen Vorderbeine und wäscht sich gründlich das Gesicht.
Jetzt klappt er seine Flügel aus und schwirrt davon.
Ich weiß nicht genau, was ein Gebet ist.
Ich weiß aber, wie man achtsam ist, wie man hinfällt
ins Gras, niederkniet im Gras,
wie man faul und gesegnet sein kann, wie man durch die Felder streift (was ich ja schon den ganzen Tag tue).
Sag mir, was hätte ich sonst tun sollen?
Stirbt am Ende nicht alles, und immer zu früh??
Sag mir, was willst du anfangen
mit deinem einzigen, wilden, kostbaren Leben?
MARY OLIVER,
Der Sommertag (The Summer Day)
Das Mysterium der Sinne und die Magie des Sinnlichen
Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut,
schließt ein neues Organ in uns auf.
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Was fähig ist, zu sehen, zu hören,
sich zu bewegen, zu handeln, das
muss dein ursprünglicher Geist sein.
CHINUL,
KOREANISCHER ZEN-MEISTER,
12. JAHRHUNDERT
Unter besonderen Bedingungen können sich unsere Sinne außerordentlich verfeinern. Es wird berichtet, dass Jäger der australischen