Wach werden und unser Leben wirklich leben. Jon Kabat-Zinn

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Wach werden und unser Leben wirklich leben - Jon Kabat-Zinn страница 8

Автор:
Серия:
Издательство:
Wach werden und unser Leben wirklich leben - Jon Kabat-Zinn

Скачать книгу

Ans Licht kommen Geschichten über stille Augenblicke, in denen jemand als Kind zusammen mit der Großmutter in der Erde gebuddelt hat, wie man Hand in Hand mit Vater oder Mutter am Ufer gestanden und in den Fluss geschaut hat, wie jemand, nur damit wir uns nicht allein fühlten und uns schämten, absichtlich ein Ei zu Boden fallen ließ, nachdem uns versehentlich eines aus der Hand gefallen war. Diese Erinnerungen tauchen spontan auf, oft ohne dass wir uns vorher jemals bewusst an das Ereignis erinnert hätten. Sie sind hier bei uns gewesen, unser ganzes Leben lang, nie vergessen, denn es ist unwahrscheinlich, dass wir, auch wenn wir Kinder waren, Momente vergessen, in denen wir uns völlig gesehen und angenommen fühlten.

      Meistens sind das wortlose Momente. Sie entfalten sich oft im Schweigen, in einem parallelen Spiel aus gemeinsamem Tun und wortlosem Zusammensein. Vielleicht wurde nur ein kurzer Blick getauscht, ein Lächeln, man fühlte sich getragen oder umarmt oder an der Hand gehalten. Aber in diesem Augenblick wissen Sie, dass Sie gesehen und erkannt und gespürt werden, und nichts in der Welt, rein gar nichts, fühlt sich besser an, entspannt uns mehr, bringt die Welt schneller in Ordnung und schenkt uns mehr Frieden. Selbst wenn wir nur eine einzige solche Erinnerung haben, tragen wir sie für immer in uns. Wir vergessen sie niemals. Sie ist da. Sie ist in uns, weil sie so viel bedeutet, weil sie so viel offenbart hat, weil sie uns so viel Respekt erwiesen hat. Was da geschehen ist, war ein viel größeres Geschenk, als wir es damals wissen konnten. Doch intuitiv wussten wir es immer. Der Körper wusste es. Das Herz wusste es. Und wir wussten es, ohne dass wir es in Begriffe hätten fassen können. Und in diesem nichtbegrifflichen Wissen waren wir bewegt, und die Erinnerung rührt uns heute noch.

      Es ist auch erstaunlich, wie selten solche Erinnerungen bei manchen sind und wie viele von uns gar keine solchen Erinnerungen haben. Stattdessen gibt es oft Erinnerungen an Momente, in denen wir uns definitiv nicht wahr- oder angenommen fühlten, ja, manchmal sogar für das, was wir waren, gedemütigt oder lächerlich gemacht wurden.

      Der Sinn einer solchen Übung für Eltern ist natürlich die Einsicht, dass jeder Augenblick mit unseren Kindern eine Gelegenheit ist, sie zu sehen und anzunehmen, wie sie sind, und zwar in jedem Alter. Wenn solche Augenblicke, in denen wir gesehen wurden, für uns als Kinder so wichtig waren, dass wir sie nie vergessen haben (auch wenn sie vielleicht äußerst selten oder gar einmalig waren): Warum dann nicht bewusst achten auf die heilende Kraft einer stillen Präsenz, wie sie entsteht, wenn Sie wenigstens ab und zu Ihre Kinder jenseits dessen wahrnehmen, was Sie von ihnen erwarten? Jenseits aller Ängste, aller Urteile und auch aller Hoffnungen? Diese Momente mögen flüchtig sein, aber wenn wir sie annehmen und uns zu eigen machen, stillen sie den tiefsten Hunger, sind sie eine Infusion liebevoller Güte mitten ins Herz des Mitmenschen.

      Unser „Ansehen“ ist also für sich selbst etwas, was Aufmerksamkeit verdient, dessen wir gewahr sein und dessen Konsequenzen wir sehen, fühlen und kennen sollten. Denn nicht nur das Sehen ist wichtig, auch das Gegenteil, das Gesehen-Werden (dies zeigt sich in der Doppeldeutigkeit des deutschen Wortes „Ansehen“). Und wenn das für jeden von uns gilt, dann gilt es für alle.

      Sehen und Gesehen-Werden bilden einen geheimnisvollen Kreislauf der Gegenseitigkeit, eine Gegenseitigkeit der Präsenz, die Thich Nhat Hanh „Intersein“ (engl.: „interbeing“) nennt. Diese Präsenz trägt, ermutigt und gibt uns die Gewissheit, dass der Drang, zu sein, wie wir wirklich sind, und uns in unserer ganzen Fülle zu zeigen, ein gesunder Impuls ist. Denn das, was wir wirklich sind, wird gesehen, erkannt und akzeptiert, und wir werden in der Wesensautonomie, die unseren Kern ausmacht, angenommen.

      All das ist Teil der Wechselseitigkeit des Sehens, wenn es echtes Sehen ist. Wenn die Schleier unserer Ideen und Meinungen dünn genug sind, dass wir die Dinge sehen und erkennen können, wie sie sind, statt in Wunschvorstellungen über sie festzustecken, dann wird unser Blick wohltuend, still, friedvoll und heilsam. Und er wird von anderen sofort so empfunden. Er wird gefühlt, er wird erkannt – und er fühlt sich sehr gut an.

      Nicht nur Kinder und andere Menschen spüren, wenn sie angeschaut werden, und können die Qualität und Absicht dieses Blickes augenblicklich spüren. Auch Tiere wissen darum und fühlen, wie wir sie sehen, mit welchen Eigenschaften des Herzens und Geistes, ob ängstlich oder voller Freude. Und Frauen kennen natürlich immer schon die bedrohliche, sie entpersönlichende und zu einem Objekt machende, raubtierhafte Aggressivität im Blick mancher Männer, die keinerlei Fürsorge empfinden und sich nicht um die Autonomie anderer scheren.

      Manche Naturvölker glauben, dass die Welt unseren Blick spürt und uns ihrerseits ansieht, sogar die Bäume und Büsche, sogar die Steine. Und wenn Sie jemals eine Nacht allein im Regenwald (oder in irgendeinem Wald) verbracht haben, dann werden Sie wissen, dass die Qualität Ihres Sehens und Ihres Seins von Abrams „mehr-als-menschlicher Welt“ gesehen und erkannt werden. Sie werden spüren, dass Sie definitiv so gesehen und erkannt werden, wie Sie wirklich sind, auch wenn es vielleicht nicht das ist, was Sie normalerweise zu sein meinen. Und dass Sie, ob Ihnen das angenehm ist oder nicht, ein eng verwobener Bestandteil dieser einen belebten und empfindenden Welt sind.

      *

       Nur der Garten war immer wunderbar.

       Schon seit langer Zeit hatte sich niemand mehr um ihn gekümmert, und er war wieder völlig verwildert.

       Seine Schönheit lag in einer Subtilität, die nur genaues Hinsehen wahrzunehmen vermochte.

      GIOIA TIMPANELLI,

      Sometimes the Soul

       Da waren sie, würdevoll, unsichtbar,

       In einer Bewegung ohne Drängen, über den toten Blättern,

       In der Herbstwärme, durch die flimmernde Luft,

       Und der Vogel rief antwortend auf

       Die ungehörte Musik verborgen im Unterholz,

       Und der ungesehene Augenstrahl kreuzte sich, denn die Rosen

       Boten den Anblick von Blumen, die angeschaut werden.

      T. S. ELIOT,

      Burnt Norton (FOUR QUARTETS)

      Hören

       Der alte Weiher.

       Ein Frosch springt rein –

       Platsch.

      BASHO

      (1644-1694)

       Schwerer Spätherbst-Regen trommelt in der Dunkelheit auf das Dach über meinem Kopf. Pausenlos, jeden Moment. Kann ich es hören … jenseits meiner Gedanken über den Regen, nur für einen Augenblick? Kann ich dieses Geräusch „empfangen“, wie es ist, ohne jeglichen Begriff, auch ohne den Begriff „Geräusch“? Ich merke, dass ich mich für das Hören nicht anstrengen muss. Ich muss gar nichts tun. Im Gegenteil: „Ich“ muss, um wirklich hören zu können, zur Seite treten. Mein „Ich“ ist etwas Zusätzliches. Ein „Ich“, das hört, das auf der Suche nach dem Geräusch ist, das lauscht, ist gar nicht notwendig. Mehr noch: Ich merke, dass genau das der Ort ist, aus dem alles Denken hervorsprudelt, aus Erwartungen, aus Ideen über mein Erleben.

      Ich experimentiere: Kann ich das Geräusch einfach kommen und auf das „Ohr-Bewusstsein“ treffen lassen, das in der bloßen Erfahrung des Hörens entsteht, wie es in jedem Moment ja bereits geschieht? Ist es

Скачать книгу