Hochsensibel Was tun?. Sylvia Harke
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Dazu eine Kurzgeschichte von mir:
Die Wandlung
Dreimal hatte es an der Tür geklopft. Erst ganz sacht, dann immer bestimmter. So erhob ich mich und öffnete die Haustür einen Spalt breit. Erschrocken schlug ich sie schnell wieder zu, denn draußen wartete ein hässlicher, schwarzer Vogel. Ein ungutes Gefühl überkam mich, eine Vorahnung. Aber eins war völlig klar. Mein Haus würde diese schwarze Nachtgestalt nicht betreten. So flüchtete ich ins obere Stockwerk, dabei verschloss ich jede Tür sorgfältig hinter mir. In einem alten Schaukelstuhl wiegte ich mich in den Schlaf, peinlich darauf bedacht, das Krächzen des Vogels zu überhören. Wenige Stunden später erwachte ich wieder. Mir schmerzte der Rücken, und ich hatte Hunger. Kurz entschlossen arbeitete ich mich zur Küche durch und beäugte den Kühlschrank. Doch da war sie wieder, diese unheimliche Vogelstimme. Jetzt vernahm ich das Krächzen ganz deutlich, es schien mir förmlich von hinten über die Schultern ins Ohr zu kriechen. Ich drehte mich um und hielt vor Schreck den Atem an, während ich begann, mich Schutz suchend mit dem Rücken an den Kühlschrank zu pressen. Der Rabe musste durch das offene Fenster eingedrungen sein. Nun saß er auf dem Küchentisch und fixierte mich mit seinen Augen. Gebannt starrte ich das schwarze Wesen an und begann, tiefer zu atmen. In diesem Augenblick verloren Zeit und Raum jegliche Bedeutung für mich. Es gab nur noch die abgrundtiefen Augen des Raben, in denen ich mich verlor. In diesem Moment verschmolz ich mit dem seltsamen Vogel, so wurde mir sein Wesen offenbar. Ich erkannte, dass er Teil dieses Hauses, meines Lebens, meiner Person war, dass ich ihn vor langer Zeit verbannt und schließlich vergessen hatte. Nun war er zurückgekehrt und forderte von mir, ihn wieder aufzunehmen. Es fühlte sich so an, als würde ein lang gehegtes Geheimnis aus mir herausplatzen und nicht mehr zu verstecken sein. Ich begriff und nahm den Vogel auf, drückte ihn an meine Brust und strich ihm über den samtig schwarzen Rücken. Eine Träne berührte den Rücken des Raben. Im gleichen Augenblick verwandelte sich das schwarze Wesen in eine Lichtgestalt, wirbelte durch die Luft und verdichtete sich zu einer Feuerkugel, um sich schließlich in mein Herz zu ergießen und mein ganzes Wesen mit dem Feuer des Lebens zu erfüllen. Dies war der Beginn meines Heilwerdens, meines Ganzwerdens.
Interviews zu Gefühlen und das Aufnehmen von „fremden“ Gefühlen
Interview, Teil 2 mit Christina (58) zu dem Thema Gefühle. Lesen Sie hier noch genauer, warum Christina emotional zugemacht hat und welche Bedeutung die Wut als Wendepunkt in der Grafik hat. Den ersten Teil des Interviews finden Sie am Anfang des Abschnitts „Hochsensible Frauen“.
„Ich bin mit einem unberechenbaren und oft grausamen und brutalen Vater aufgewachsen. Ich hatte zwei kleinere Geschwister und es mir zur Aufgabe gemacht, sie zu beschützen. Mit meinen feinen Antennen war es leicht, schon am Herumdrehen des Schlüssels im Schloss zu erahnen, in welcher Stimmung mein Vater beim Nachhausekommen war: So konnte ich mich darauf einstellen und ihn mit entsprechendem Verhalten beruhigen – zumindest habe ich damals geglaubt, dass das geht. Um ihn aber genau wahrnehmen zu können, musste ich leer sein, durfte ich keine eigenen Gefühle haben, und so war ich ausschließlich bei ihm und fühlte mich gar nicht. Dieses Verhalten ist zu einem Lebensmuster geworden, ich war immer bei anderen Menschen, nie bei mir. Vor einem halben Jahr kam dann der Zusammenbruch, ich konnte und wollte das nicht mehr. Ich habe mir freien Raum geschaffen, um meine Stimme hören zu können, um herauszufinden, wer ich bin. Das erste ‘eigene' Gefühl, das ich fand, war Wut, sie wurde zu meinem Leuchtfeuer, weil ich darin authentisch war. Seit ich herausgefunden habe, dass es ein Fehlschluss war, zu glauben, ich fühle gar nichts, dass ich vielmehr zu wissen meinte, was ich fühlen müsse, und die Abwesenheit dieser ‘designten' Gefühle mit Nichtfühlen verwechselt habe, wachsen langsam und zart meine ganz eigenen Gefühle heran und dies sind sie für mich: Wegweiser zu der, die ich bin, Leuchtzeichen für meine Authentizität. Ich halte mich noch immer von anderen Menschen fern, damit ihre Stimmen nicht die meine übertönen, und wenn ich ‘wirklich' fühle, wenn ich sicher spüre, dass dieses Gefühl ganz das meine ist, wenn keine andere Energie dazwischen quatscht, bin ich glücklich …“
In diesem Interview können Sie auch wertvolle Hinweise auf eine Problematik finden, die viele Hochsensible betrifft. Nämlich die Schwierigkeit, sich von den Gefühlen anderer abzugrenzen, und das Verlieren des eigenen Ichs. Im Verlauf des Buches werde ich immer wieder auf diesen Themenkomplex zurückkommen, da er sehr zentral ist. Bei Hochsensiblen, die zu stark von den Gefühlen anderer beeinflussbar sind und sich selbst dabei nicht mehr spüren, liegt der Verdacht nahe, dass sie ebenso Gewalterfahrungen wie Christina gemacht haben oder dass sie in irgendeiner Form als Kind vernachlässigt wurden. (Lesen Sie auch dazu das Kapitel 4, insbesondere den Abschnitt über die Traumatherapie.) Es ist kein Wunder, dass Wut das erste „eigene“ Gefühl bei Christina war, denn als Kinder mussten viele HSPs das Wutgefühl unterdrücken. Wut ist eine gesunde Reaktion auf kranke oder verletzende Zustände. Doch bleiben Sie nicht bei der Wut stehen. Gehen Sie die Grafik zur Logik der Gefühlsebenen noch einmal durch. Sie sehen, auf die Wut folgt Trauer, auch ein sehr wichtiges, erlösendes Gefühl, das hilft, die enorme innere Anspannung abzubauen, die mit Wut in Verbindung steht. Sich der „negativen“ Gefühle anzunehmen, hilft uns dabei, wieder authentische Menschen zu werden.
Viele HSPs berichten darüber, dass sie die Gefühle anderer Menschen aufnehmen und sich dabei nur schwer abgrenzen können.
Julia (20 Jahre) berichtet über ihr Gefühlsleben:
„Die Gefühle anderer reißen mich sehr stark mit. Wenn eine Gruppe Leute um mich herum fröhlich ist und lacht, kann ich einfach nicht traurig sein, ich freue mich mit ihnen. Wenn Personen traurig sind oder wegen einer Spinnenphobie aufgelöst schluchzen, setze ich mich neben sie und weine mit ihnen. Menschen und ihre Gefühle liegen mir sehr am Herzen, ich bin froh, dass ich oft weiß, wie sich andere gerade fühlen. Andererseits kann das auch sehr schnell zur Belastung werden, vor allem, wenn man in schwierigen Familienverhältnissen aufwächst. Meine Mutter z. B. ist sehr kontrollierend, aufbrausend und geradezu in Rage wegen Kleinigkeiten … Ich fühle ihren Hass, ihre Wut, ihre Verzweiflung, aber auch ihre Selbstzweifel. Ich kann sie sehr gut verstehen, aber eben auch meine Geschwister und meinen Vater. Das macht es sehr schwer, innerhalb der Familie ‘eine Seite zu wählen' bzw. den Streit zu schlichten. Von zu vielen Gefühlen oder Reizen bekomme ich sehr schnell Kopfschmerzen …“
Wenn Sie den Absprung nicht schaffen …
Sie entfernen sich von sich selbst, wenn Sie sich nur noch in den Energiefeldern anderer Menschen aufhalten und Ihr eigenes Ich dabei ausblenden. Diese übersteigerte Empathie kann Ihnen schaden, für viele HSPs kann dies sogar zu Zuständen von Weltschmerz oder zum Zusammenbruch führen. Sie können das Leid auf dieser Erde jedoch nicht lindern, indem Sie es bei allen mitfühlen. Das bewusste Steuern Ihrer Aufmerksamkeit ist eine wertvolle Errungenschaft. Indem Sie erkennen, dass Sie nicht für alle da draußen verantwortlich sind, haben Sie die Chance, Ihre eigene Stabilität zurückzugewinnen. Sie machen die Welt nicht besser, wenn Sie sich mit jedem Bettler oder mit den Straßenkindern in Indien identifizieren. Auch wenn es traurig ist, Sie dürfen sich auf Ihr eigenes Leben konzentrieren. Keine Angst – das wird nicht dazu führen, dass Sie egoistisch und kalt durchs Leben laufen. Doch dieser gesunde Selbstschutz steht Ihnen zu. Denn wenn Sie voll sind mit dem Leid und Schmerz anderer Menschen und Tiere, wie viel Platz bleibt dann noch für Sie selbst übrig? Im Laufe des Buches werden Sie noch viel über die Ichstärkung lesen, die Ihnen bei diesem Thema weiterhelfen wird.
Übungen zur emotionalen Abgrenzung finden Sie in der Survivalregel Nr. 3.
Denkstrukturen
Logisch