Hochsensibel Was tun?. Sylvia Harke
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Filmbeispiel „Good Will Hunting“
Abschließend möchte ich Ihnen noch einen Film zum Thema empfehlen. „Good Will Hunting“ ist ein Meisterwerk des Regisseurs Gus van Sant. Hauptdarsteller Matt Damon schrieb das Drehbuch gemeinsam mit seinem Kollegen Ben Affleck. Der Film handelt von dem hochbegabten Jugendlichen Will Hunting (gespielt von Matt Damon), der in einem heruntergekommenen Vorort von Boston lebt. Aufgrund seiner ärmlichen Herkunft und des zerrütteten Elternhauses, in dem er Alkoholismus und Gewalt erlebt hat, arbeitet er als Hilfsarbeiter auf dem Bau und als Reinigungskraft an der Cambridge-Universität. Eines Tages löst er dort auf einer Tafel im Flur eine sehr schwierige Gleichung der höheren Mathematik, und der Professor erkennt in ihm ein unentdecktes Mathematikgenie. Da Will selbst immer wieder in Schlägereien verwickelt wird, kommt er vor Gericht. Der Professor bewirkt, dass eine Haftstrafe entfällt, wenn Will sich in psychologische Behandlung begibt. Der College-Psychologe Sean Maguire (gespielt von Robin Williams) nimmt sich des Jungen an. Will provoziert, pokert und reagiert mit Zynismus und Sarkasmus auf die therapeutischen Annäherungsversuche. Es scheint hoffnungslos. Der junge Hochbegabte versteckt sich hinter einer Maske, seine emotionale Panzerung ist aufgrund seiner traumatischen Kindheitserlebnisse zu stark. Erst als der Psychologe von seinem eigenen Vater berichtet und wie er ihn als Kind regelmäßig verprügelt hat, bricht der Damm. In der Schlüsselszene versichert der Therapeut Will immer wieder, dass er keine Schuld an den übergriffen des Vaters habe. Dieser bleibt zunächst distanziert, je öfter Maguire den Satz jedoch wiederholt, umso mehr öffnet sich Will, bis er schließlich in Tränen ausbricht und weinend in den Armen des Therapeuten liegt. In dieser Szene findet Will endlich wieder den Zugang zu seiner eigenen Verletzlichkeit und kann dadurch wieder authentisch werden. Seine eigenen aggressiven Ausbrüche reduzieren sich, er findet seinen eigenen Lebensweg. Dieser wunderbare Film enthält viele wichtige und berührende Botschaften, die sehr stark mit den Themen Hochsensibilität, Verletzlichkeit und auch (Hoch-)Begabung verknüpft sind.
Gefühle
In diesem Buch werden Sie noch sehr viel über Gefühle und den Umgang mit ihnen lesen. Hochsensible Menschen haben ein besonders intensives Gefühlsleben, das ihnen überwältigend und zum Teil sogar bedrohlich erscheinen kann, sofern sie nicht gelernt haben, damit angemessen und konstruktiv umzugehen. Ein weiteres Persönlichkeitsmerkmal, das die meisten HSPs kennen, ist der Wunsch nach Harmonie. Wenn sich im Umfeld Spannungen und Konflikte aufbauen, versuchen meist die HSPs, die Wogen wieder zu glätten und zu schlichten. Daher beschäftigt sich dieses Kapitel sowohl mit dem Umgang mit eigenen Gefühlen als auch mit sogenannten „fremden Gefühlen“, die HSPs häufig von anderen Personen aufschnappen.
Als Einführung in dieses Thema lesen Sie hier einen Teil des Interviews mit Julia (20 Jahre):
Frage: „Was bedeuten Gefühle für dich?“
Julia: „Gefühle sind die Grundlage jeden Seins, durch sie ist unser Leben lebenswert. Wir können nicht ohne Gefühle leben, denn ohne sie wären wir nur leere Hüllen, die keinen anderen Zweck verfolgen als Essen, Trinken, Fortpflanzen und Schlafen. Ohne Gefühle wäre die Menschheit nicht überlebensfähig. Aus genau diesem Grund haben auch alle Lebewesen auf diesem Planeten Gefühle, Mensch wie Tier. Jeder, der ein Haustier hatte und sich ernsthaft mit diesem beschäftigt hat, kann dies bestätigen. Denn Tiere zeigen ihre Gefühle ohne Vorbehalte, ohne ‘Maske', die viele Menschen heutzutage zur Schau tragen. Dadurch sind Tiere die besseren Menschen, und wir alle tun gut daran, ihnen ein angenehmes Leben zu bescheren, sie wertzuschätzen und keinem Tier absichtlich zu schaden oder es sogar zu töten. Gefühle, egal ob guter oder schlechter Art, zeigen, wer wir sind. Wenn wir sie unterdrücken, blockieren wir einen Teil unseres Selbst, und das ist nie gesund. Gefühle sind das Schönste, das Allerschönste auf dieser Welt. Es kann wehtun, die Gefühle anderer zu sehen und zu fühlen, und trotzdem ist es das Beste, was uns Menschen passieren konnte.“
Da unsere Gesellschaft den Ausdruck von Gefühlen eher unterdrückt, ist der offene Umgang damit in den meisten Situationen schwierig. Sie sind wie Wellen im Meer, die kommen und gehen. Ein Gefühl verwandelt sich in das nächste, wenn wir es zulassen können. In meiner Ausbildung für die Atemtherapie habe ich erfahren, dass unterdrückte Gefühle eine Art Stau im System verursachen. Das Gegenteil von Verletzlichkeit ist Panzerung. Die Verkrustung des emotionalen Systems kann die Betroffenen anfällig für Depressionen machen. Darüber werden Sie im weiteren Verlauf des Buches noch mehr erfahren. Im Moment reicht es, wenn wir festhalten, dass alle Gefühle tatsächlich als Freunde betrachtet werden dürfen. Es gibt keine schlechten Gefühle, obwohl wir das so gelernt haben. Je mehr wir versuchen, negativ bewertete Zustände wie Wut, Hass, Neid oder Angst zu unterdrücken, umso weniger Chancen bestehen, diese zu lösen. Einige Interviewpartner gaben an, dass sie Gefühle besonders gut über Musik oder Kunst ausdrücken können. Der einfachste Weg, um mit unseren Gefühlen in Kontakt zu kommen und sie wertfrei zulassen zu können, ist das offene, verbundene Atmen. Wenn Sie an sich beobachten, dass Sie flach und stockend atmen, sind Sie wohlmöglich innerlich sehr angespannt und unterdrücken Ihre Gefühle. Sobald Sie offen durch den Mund atmen und sich dabei Ihren inneren Raum nehmen, sind Sie wieder in Verbindung mit dem eigenen Selbst.
Die Bewegung von Emotionen durch unser System folgt einer bestimmten Logik, die in der folgenden Grafik dargestellt ist. Manchmal entpuppt sich das emotionale Erleben als eine Art Labyrinth. Je offener Sie damit jedoch umzugehen lernen, desto mehr werden Sie diese Logik wahrnehmen. Die Symbole für Plus und Minus in der folgenden Grafik stellen jene Bewertungen dar, die wir Menschen normalerweise solchen Gefühlen entgegenbringen, wobei jedes Gefühl seine Berechtigung hat. Auf der anderen Seite sind die Symbole auch als Orientierung gemeint. Wenn Sie sich selbst eher auf der rechten Seite unterhalb des Pfeils wiederfinden, ist therapeutische Hilfe angezeigt. Viele Menschen erleben ihre traurigen Gefühle als Belastung. Dennoch ist Trauer ein Gefühl, das verwandelt und erlöst. Trauergefühle werden in unserer Gesellschaft häufig nicht richtig verstanden, sie sind jedoch der Schlüssel zu persönlicher Reife und zur psychischen Gesundheit. Wenn ein Mensch einen tiefen Verlust nicht authentisch betrauert, so kann sich daraus später eine Depression entwickeln, die auf der Grafik weiter unten angezeigt ist. Ohne Trauerverarbeitung können Sie die schmerzlichen Themen in Ihrem Leben nicht wirklich abschließen. Trauer macht uns offen, verletzlich weich und wieder lebendig.
Abb 2.1
Abbildung 2.1: beschreibt den Zusammenhang von Gefühlszuständen und dem Grad an Lebendigkeit, die ein Mensch erfährt. Auf der Seite mit dem Minus (-) befinden sich Gefühle und Zustände, die wir in der Regel als „negativ“ bezeichnen würden, daher werden diese Gefühle häufig unterdrückt. Auf der Seite mit dem Plus (+) sind Gefühlszustände angeführt, die von Menschen als positiv bezeichnet werden. Der Pfeil symbolisiert die Wende im Verarbeitungsprozess. Deshalb ist die Trauer ein Tor zwischen den „positiven“ und „negativen“ Gefühlen und damit ein transformierendes Geschehen. Durch das Zulassen der Trauer (bei Enttäuschungen, Verlusten oder in Momenten des Scheiterns) öffnet sich im Menschen eine tiefere Dimension. Er wird dadurch überhaupt erst fähig, Verluste zu verarbeiten und kommt bei sich selbst in seinem inneren Kern an. Unser Grad an Offenheit bestimmt, ob wir in der Lage sind, uns durch das Wahrnehmen der Gefühle in immer höhere Zustände weiterzuentwickeln, oder ob wir „steckenbleiben“. Im Verlauf des Lebens mit seinen vielschichtigen Ereignissen können wir die Struktur hinauf- und herunterwandern, da gibt es keine Vorhersehbarkeit.
Das Unterdrücken von Gefühlszuständen führt lediglich dazu, dass Sie im Laufe der Jahre immer weiter nach unten in der Tabelle rutschen und irgendwann das Gefühl haben, keine Kraft mehr zum Leben zu haben. Besonders die „negativen“ Emotionen sind jedoch der Schlüssel zur Heilung. Wenn ich mich endlich dem Thema Scham annehme, der Wut oder der Verzweiflung und nicht mehr dagegen ankämpfe, haben diese Gefühle die Chance, sich zu verwandeln,