Dialektik der Ordnung. Zygmunt Bauman

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Dialektik der Ordnung - Zygmunt Bauman

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davon hatte, entsprach dem vieler anderer aus meiner Generation oder dem der Jüngeren: ein entsetzliches Verbrechen, das die Bösen an den Unschuldigen verübt hatten. Die Welt des Holocaust zerfiel in anomale Mörder und hilflose Opfer und jene, die versucht hatten, den Opfern zu helfen, soweit es eben ging. Nach dieser Vorstellung begingen die Mörder ihre Verbrechen, weil sie Psychopathen waren oder von einer wahnwitzigen Idee besessen; die Opfer wurden hingeschlachtet, weil sie dem übermächtigen, schwer bewaffneten Gegner nichts entgegenzusetzen hatten; und die übrige Welt hatte erschüttert zusehen müssen, bis der Sieg der Alliierten über die Nationalsozialisten dem unsäglichen Leiden ein Ende bereitete. Meine Vorstellung vom Holocaust war wie ein gerahmtes Bild an der Wand, das von seiner Umgebung sauber getrennt ist und mit dem Rest des Mobiliars nichts zu tun hat.

      Nach der Lektüre von Janinas Buch wurde mir bewußt, wie gering mein Wissen war – oder besser, wie wenig ich nachgedacht hatte. Mir dämmerte, daß ich überhaupt keine Vorstellung hatte von jener Welt, die »nicht die meine war«. Was dort geschehen war, entzog sich allen einfachen und gedanklich befriedigenden Erklärungsversuchen, die ich bis dahin für ausreichend gehalten hatte. Der Holocaust war nicht nur ein finsteres, schreckliches Geschehnis, sondern ließ sich mit gewohnten, »normalen« Kategorien nicht erfassen. Der Holocaust besaß seinen eigenen Code, den es zu entschlüsseln galt.

      Ich begann mich dafür zu interessieren, was Historiker, Sozialwissenschaftler und Psychologen über den Holocaust herausgefunden hatten. Ich stöberte in Bibliotheksregalen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Der Faktenreichtum der vielen historischen Studien und die Seriosität der theologischen Traktate, auf die ich stieß, war außerordentlich. Es gab sogar einige wenige sorgfältig recherchierte und gut beschriebene soziologische Untersuchungen. Die Analyse der von den Historikern zusammengetragenen Fakten ließ nur eine Schlußfolgerung zu: Der Holocaust war kein Bild an der Wand, sondern ein Fenster, durch das Dinge sichtbar wurden, die normalerweise unentdeckt bleiben. Und was zum Vorschein kam, geht nicht nur die Urheber, die Opfer und die Zeugen des Verbrechens etwas an, sondern ist von größter Bedeutung für alle, die heute leben und auch in Zukunft leben wollen. Der Blick durch dieses Fenster verstörte mich zutiefst, aber je bedrückter ich wurde, desto mehr wuchs in mir die Überzeugung, daß es äußerst gefährlich ist, diesen Blick nicht zu tun.

      Anfangs war der Blick durch dieses Fenster für mich fremd, und darin glich ich vielen meiner Fachkollegen. Wie die meisten Soziologen nahm ich an, der Holocaust sei bestenfalls ein Untersuchungsgegenstand für die Sozialwissenschaften; daß der Holocaust seinerseits unseren Untersuchungsgegenstand erhellen könnte, ahnte ich nicht. Der Holocaust schien mir (weil ich es nicht besser wußte) eine Unterbrechung des normalen Ganges der Geschichte, ein Krebsgeschwür am Körper der zivilisierten Gesellschaften, ein Fall von Wahnsinn inmitten gesunder Verhältnisse. Nur deshalb konnte ich meinen Studenten ein Bild von der normalen, gesunden Gesellschaft zeichnen, denn ich glaubte, den Holocaust den Spezialisten für Pathologisches überlassen zu können.

      Meine Selbstzufriedenheit und die meiner Kollegen wurde gefördert (auch wenn dies keine Entschuldigung sein darf) durch die Art und Weise, in der das Vermächtnis des Holocaust vereinnahmt und behandelt wurde. Im kollektiven Bewußtsein gilt der Holocaust als Tragödie der Juden und der Juden allein; von den anderen wird nicht viel mehr als Bedauern, Mitleid, vielleicht auch Rechtfertigung verlangt. Wieder und wieder von Juden und Nichtjuden wurde der Holocaust als kollektives Schicksal und Privatangelegenheit der Juden dargestellt, argwöhnisch bewacht von denen, die den Erschießungen und Gaskammern entkommen waren, oder von den Kindern der Ermordeten. Unter dem Strich ergänzten sich die »Innen«- und die »Außenperspektive«. Selbsternannte Sprecher der Opfer warnten vor einer Verschwörung derer, die den Juden den Holocaust entreißen und »christianisieren« oder sein spezifisch jüdisches Gepräge zu einer Frage der »Humanität« machen wollten. Der Staat Israel versuchte, die tragische Erinnerung in ein Zertifikat seiner politischen Legitimität, in einen Freibrief für die frühere und zukünftige Politik und sozusagen als Vorschuß auf das von ihm selbst begangene Unrecht umzumünzen. Alle diese Gründe trugen dazu bei, daß sich der Holocaust in das öffentliche Bewußtsein als rein jüdische Angelegenheit eingrub, die von nur geringer Bedeutung für die heutige Gesellschaft und die in ihr Lebenden (seien sie nun Juden oder nicht) ist. Wie sehr die Bedeutung des Holocaust fatalerweise auf die des privaten Traumas einer einzigen Nation reduziert worden ist, erlebte ich an einem gelehrten, klugen Freund. Als ich mich darüber beklagte, wie wenig allgemeingültige Schlußfolgerungen aus dem Holocaust in der soziologischen Literatur zu finden seien, war seine Reaktion: »Das finde ich auch erstaunlich, wenn man bedenkt, wieviel jüdische Soziologen es doch gibt.«

      Der Holocaust wird zu Jahrestagen und besonderen Anlässen thematisiert, normalerweise in jüdischen Gemeinden oder vor einer jüdischen Zuhörerschaft. Universitäten bieten Kurse über die Geschichte des Holocaust an, wenn auch außerhalb der normalen Lehrveranstaltungen. Der Holocaust gilt als Spezialthema der jüdischen Geschichte, es gibt Fachleute, die einander auf Tagungen und Symposien immer wieder begegnen. Doch ihre produktive und äußerst interessante Forschungsarbeit findet nur selten Eingang in die allgemeine Fachwissenschaft oder das kulturelle Leben – was natürlich auf viele Spezialgebiete in unserer Welt der Spezialisten und des Spezialistentums zutrifft.

      Wenn Erkenntnisse diesen Weg schließlich doch einmal finden, dann betritt der Holocaust die öffentliche Bühne in der Regel in gereinigter, demobilisierender und abgemilderter Form. Im Einvernehmen mit den gängigen Mythen rüttelt der Holocaust das Publikum als menschliche Tragödie auf, ohne jedoch die Selbstzufriedenheit zu tangieren. Ein Beispiel ist die amerikanische Fernsehserie Holocaust: Sie zeigte, wie gebildete, kultivierte Arztfamilien aufrecht, würdevoll und moralisch unversehrt in die Gaskammer gingen, geführt von widerlichen, degenerierten Nazischergen und ihren ungeschlachten, blutrünstigen slawischen Gehilfen. David G. Roskies, ein scharfsinniger und einfühlsamer Beobachter der jüdischen Reaktionen auf die Apokalypse, hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Beobachtung gemacht: Sei die Ghetto-Dichtung zunächst durch Nachdenklichkeit gekennzeichnet gewesen, so habe sich in den späteren Versionen – wie durch schleichende Selbstzensur – jüdisches Selbstbewußtsein durchgesetzt. »Je mehr die Zwischentöne verdrängt wurden«, so Roskies, »desto mehr bildeten sich die bekannten archetypischen Konturen des Holocaust heraus: Die jüdischen Opfer waren absolut gut, die Nazis und ihre Kollaborateure absolut böse.«1 Hannah Arendt löste einen Sturm der Empörung aus, als sie die These wagte, die Opfer eines unmenschlichen Regimes hätten auf dem Weg in die Vernichtung notgedrungen einen Teil ihrer Menschlichkeit verloren. Der Holocaust war ohne Zweifel eine jüdische Tragödie. Zwar waren die Juden nicht die einzigen, die dem Naziregime zum Opfer fielen (auf Geheiß Hitlers starben 20 Millionen Menschen, davon 6 Millionen Juden), doch nur für die Juden war die vollständige Vernichtung geplant, da sie in der Neuen Ordnung der Nationalsozialisten keinen Platz hatten. Dennoch: Der Holocaust ist nicht einfach ein jüdisches Problem und nicht ausschließlich ein Element jüdischer Geschichte. Der Holocaust wurde inmitten der modernen, rationalen Gesellschaft konzipiert und durchgeführt, in einer hochentwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen; er muß daher als Problem dieser Gesellschaft, Zivilisation und Kultur betrachtet werden. Die Verdrängungsprozesse im historischen Gedächtnis unserer modernen Gesellschaft sind aus diesem Grunde mehr als nur Ignoranz, die die Opfer der Genozids verletzen muß; sie sind auch ein Indiz für eine gefährliche, potentiell suizidale Blindheit.

      Wenn hier von einem Verdrängungsprozeß die Rede ist, bedeutet das nicht, daß der Holocaust aus dem Gedächtnis schwindet. Im Gegenteil. Abgesehen von einigen revisionistischen Kreisen, die die historischen Fakten abstreiten (und so durch die Schlagzeilen, die sie machen, ungewollt für mehr Aufsehen sorgen), nimmt das öffentliche Interesse an den grausamen Fakten des Holocaust eher noch zu. Das gesamte Thema hat – zumindest als Rahmenthema – einen festen Platz in Filmen, im Fernsehen und in der Literatur gefunden. Dennoch findet der Verdrängungsprozeß statt, denn zwei Vorgänge wirken zusammen.

      Zum einen wird die Geschichte des Holocaust zunehmend in ein Spezialgebiet mit eigenen wissenschaftlichen Instituten, Stiftungen und Symposien abgedrängt. Ein bekannter Effekt dieser

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