Dialektik der Ordnung. Zygmunt Bauman

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Dialektik der Ordnung - Zygmunt Bauman

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der orthodoxen Soziologie auf diesem Gebiet in diesem Zusammenhang, wenn auch schonungslos, bloß. Tatsächlich gibt es ohne eine Revision der grundlegend stillschweigend akzeptierten Prämissen des soziologischen Diskurses keine Alternative zu dem von Fein beschrittenen Weg. Der Holocaust resultiert dieser Betrachtungsweise zufolge aus einer verhängnisvollen, zeitlich begrenzten Verkettung sozialer und psychologischer Faktoren. Das implizit oder explizit bemühte Modell eines human prägenden, prä- und antisoziale Triebe bändigenden zivilisatorischen Korsetts hat auch vor dem Holocaust Bestand. Die These: Moralisches Handeln verdankt sich der sozialen Ordnung, Erosionserscheinungen lassen auf gesellschaftliche Funktionsstörungen schließen. ›Im anomischen – das heißt ›gesetzlosen‹ – Zustand neigt der Mensch zur Rücksichtslosigkeit gegenüber dem anderen.‹6 Im Umkehrschluß hieße dies, daß funktionierende soziale Regeln diese Skrupellosigkeit weitgehend ausschließen. Die Leistung der sozialen Ordnung – und damit auch der modernen Zivilisation, in der bekanntlich das regulative Element einen nie zuvor bekannten Entwicklungsstand erreicht – bestünde demzufolge darin, den Egoismus und die angeborene animalische Grausamkeit des Menschen im moralischen Zaum zu halten. Die enge, durch die eigene methodologische Zurichtung verfälschte These der orthodoxen Soziologie zum Holocaust kann daher nur lauten: Der Holocaust ist ein Betriebsunfall, nicht das Produkt der Moderne.

      In einer anderen bemerkenswerten soziologischen Studie zum Thema Holocaust durchleuchtet Nechama Tec das soziale Spektrum von der entgegengesetzten Seite her: Wer waren die Helfer der Verfolgten? [Wer waren] jene, die sich der »Vernichtungsarbeit« widersetzten und ihr Leben für leidende Mitmenschen aufs Spiel setzten, wo ringsum Egoismus herrschte; wer waren sie, die inmitten amoralischer Zeiten moralisch blieben. Getreu dem Gebot der soziologischen Lehre versucht die Autorin zu ergründen, inwieweit ein nach damaliger Anschauung »abartiges« Verhalten sozial determiniert war. Nacheinander prüft sie die Hypothesen, die jeder ernstzunehmende Soziologe in einem solchen Forschungsprojekt herangezogen hätte. Allein die erwünschten Korrelationen zwischen Hilfsbereitschaft auf der einen und den verschiedenen Faktoren wie soziale Schicht, Bildungsstand, Konfessions- und Parteizugehörigkeit auf der anderen Seite lassen sich nicht nachweisen. Tecs Fazit fällt anders aus, als sie selbst – und der soziologisch beschlagene Leser – es erwartet hatte: »Die Retter empfanden ihr eigenes Verhalten als selbstverständlich – sie wandten sich spontan gegen die Schrecken ihrer Zeit.«7 Anders ausgedrückt: Diese Menschen bewiesen Hilfsbereitschaft, weil es in ihrer Natur lag. Daß sie keiner bestimmten Bevölkerungsgruppe und -schicht zuzuordnen waren, bedeutete einen herben Schlag für das Konzept einer »sozialen Determinanz« moralischen Verhaltens. Wenn überhaupt, so wirkten derartige Determinanten nur indirekt, indem sie nämlich nicht stark genug waren, den »Helferinstinkt« zu neutralisieren. Im Gegensatz zu vielen ihrer Fachkollegen kommt Tec der eigentlichen soziologischen Fragestellung nahe: diese nämlich lautet nicht »Wie können wir Soziologen den Holocaust erklären«, sondern »Welche Konsequenzen hat der Holocaust für unser Fach und unsere Methoden«.

      Daß diese Frage ungestellt blieb, zeigt, welche sträflichen Versäumnisse in der soziologischen Aufarbeitung des Holocaust immer noch gemacht werden. Die Schlußfolgerungen daraus müssen jedoch genau bedacht sein. Die Bankrotterklärung der etablierten Soziologie zu diesem Thema führt allzu leicht zu Überreaktionen. Wer die Hoffnung aufgegeben hat, den Holocaust in den theoretischen Rahmen eines Scheiterns der Moderne an ihrem selbstgestellten Programm (dazu gehören: Unterdrückung der ewig fremdartigen Momente des Irrationalen, Zähmung der emotional-aggressiven Triebe durch den Zivilisationsprozeß, moralische Bildung durch Sozialisation) zu subsumieren, wählt nur zu gern einen »natürlichen« Ausweg aus dem Dilemma: der Holocaust als »Paradigma« der modernen Zivilisation, im Range eines »natürlichen«, »normalen«, wenn nicht gar alltäglichen Produktes und einer »historischen Tendenz«. Derart wird der Holocaust in den Status einer Wahrheit der Moderne erhoben, anstatt erkannt zu werden als eine der Moderne inhärente Möglichkeit – wobei diese Wahrheit von den ideologischen Phrasen derjenigen, die von der »großen Lüge« zu profitieren hoffen, nur unvollkommen verschleiert werden kann. Auf geradezu perverse Weise führt dieses Denken (von dem im vierten Kapitel noch zu reden sein wird) dazu, daß der Holocaust, dessen historische Bedeutung und theoretische Relevanz man zu betonen meint, im Gegenteil gerade relativiert wird. Mit anderen Worten: Die Schrecken des Holocaust werden tatsächlich identisch mit jenen Leiden, die die moderne Gesellschaft ohne Zweifel tagtäglich im Überfluß verursacht.

       Der Holocaust als Test der Moderne

      Vor einigen Jahren interviewte ein Journalist von Le Monde ehemalige Geiselopfer. Einer seiner bemerkenswertesten Befunde war eine besonders hohe Scheidungsrate unter Ehepaaren, die eine Geiselnahme gemeinsam als Opfer durchlitten hatten. Irritiert befragte der Journalist die Beteiligten nach den Gründen für ihren Schritt. Nur in wenigen Fällen war die Scheidung bereits vor der Geiselnahme in Erwägung gezogen worden.

      Die Befragten beschrieben ihre Erfahrungen unter den alptraumhaften Bedingungen der Geiselnahme jedoch als »augenöffnend«, weil sie den Partner in einem »gänzlich neuen Licht« erlebt hatten. Brave Ehemänner »entpuppten« sich als selbstsüchtige Individuen, die nur die eigene Haut retten wollten; dynamische Geschäftsleute wurden zu erbärmlichen Feiglingen; souveräne »Männer von Welt« verfielen der Lethargie und bejammerten ihr nahes Ende. Der Journalist stieß auf eine heikle Frage: Welche Inkarnation dieser im Sinne des Wortes janusköpfigen Individuen sollte man das »wahre Gesicht« und welches die Maske nennen? Er erkannte, daß die Fragestellung falsch war. Keine Ausprägung war »wahrer« als die andere. Als Möglichkeiten schon immer im Charakter des einzelnen enthalten, zeigten sie sich nur zu unterschiedlicher Zeit und unter andersartigen Umständen. Das »gute« Gesicht schien nur deshalb normal zu sein, da es durch normale Umstände begünstigt wurde. Dennoch war auch die dunkle Seite immer präsent, wenn auch unter der Oberfläche. Der faszinierendste Aspekt dieser Recherchen ist, daß das »andere Gesicht« ohne die Geiselnahme vermutlich für alle Zeit verborgen geblieben wäre. Die Partner hätten ihr Eheglück weiter genießen können, ohne sich der unangenehmen Eigenschaften dessen, den sie zu kennen meinten, je bewußt zu werden. Erst unerwartete und außergewöhnliche Umstände waren imstande, diese ans Licht zu bringen.

      Die oben zitierte Stelle aus der Studie von Nechama Tec endet mit folgender Beobachtung: »Ohne den Holocaust hätten die meisten dieser Helfer ihren Lebensweg relativ ungestört fortgesetzt, vielleicht mit sozialem Engagement, jedoch im allgemeinen ein unauffälliges Leben führend. Wir hätten es mit verkappten Helden zu tun gehabt, die von ihren Mitmenschen nicht zu unterscheiden gewesen wären.« Eine der wichtigsten (und überzeugendsten) Schlußfolgerungen ihrer Untersuchung: Es sei unmöglich, Anzeichen, Symptome oder Indikatoren für individuelle Hilfs- und Opferbereitschaft, oder auch Feigheit, angesichts einer Gefahr zu »isolieren«; mithin unmöglich, auch die Wahrscheinlichkeit solcher Manifestationen unabhängig vom »auslösenden« Kontext statistisch zu ermitteln.

      John R. Roth hat diesen Gedanken einer Opposition von Potentialität und Realität (zusammenhängenden Modi, von denen nur der eine manifest, d. h. empirisch faßbar wird) in direkten Zusammenhang mit unserem Thema gebracht:

      Hätte das Nazi-Regime obsiegt, wäre kraft seiner Autorität befunden worden, im Holocaust seien keine fundamentalen/natürlichen Gesetze mißachtet und kein Verbrechen gegen Gott und die Menschlichkeit begangen worden. Früher oder später hätte vermutlich das Zwangsarbeitssystem zur Disposition gestanden, wobei man die Entscheidung sicherlich nach rationalen Kriterien getroffen hätte.

      Insgeheim wird die kollektive Erinnerung an den Holocaust (und geradezu ursächlich auch die Furcht vor der Konfrontation mit dessen historischer Realität) von der Horrorvision und dem nagenden Verdacht überlagert, der Holocaust sei vielleicht gar keine Verirrung vom geraden Weg des Fortschritts, kein Krebsgeschwür am gesunden Organismus der zivilisierten Gesellschaft. Wenn nun der Holocaust gar nicht die Antithese zur modernen Zivilisation (und all dessen, was wir damit verbinden) wäre? Der uneingestandene Verdacht lautet, der Holocaust könne ein verborgenes Antlitz derselben modernen

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