Dialektik der Ordnung. Zygmunt Bauman

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Dialektik der Ordnung - Zygmunt Bauman

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Vorstellung ist unerträglicher als die, daß keins der beiden ohne das andere existiere: wie die zwei Gesichter einer Münze.

      Viele wagen nicht den letzten Schritt bis zu dieser schrecklichen Wahrheit. Henry Feingold z. B. besteht darauf, der Holocaust sei ein Bruch in der langen und insgesamt makellosen Entwicklungsgeschichte der modernen Gesellschaft. Der Schritt dorthin sei ebensowenig vorhersehbar gewesen wie etwa der gefährliche neue Stamm eines bezwungen geglaubten Virus.

      Die »Endlösung« bezeichnet die Bruchstelle innerhalb der industriellen Entwicklung Europas, die, statt in ein besseres Leben – ursprünglich das Ziel der Aufklärung – in Selbstvernichtung mündete. Es war dasselbe industrielle System und Ethos, das Europa ursprünglich die Vorherrschaft in der Welt gebracht hatte.

      Hier wird postuliert, das Rüstzeug für die Weltherrschaft sei qualitativ verschieden von den instrumentalen Voraussetzungen einer funktionierenden »Endlösung«. Und doch verkennt Feingold die Tatsachen nicht:

      [Auschwitz] war auch eine sachlich-nüchterne Ausweitung des modernen Fabriksystems. Statt Güter zu produzieren, wurden hier aus dem Rohstoff Mensch Leichen produziert, die man in Einheiten pro Tag säuberlich in Schaubildern festhalten konnte. Die Schornsteine, Inbegriff der Fabrikproduktion, stießen den beißenden, für Verbrennung von Leichen typischen Rauch aus. Über das weitverzweigte europäische Eisenbahnnetz wurde der neuartige Rohstoff herangeschafft wie normales Frachtgut. In den Gaskammern starben die Opfer im Blausäuregas der weltweit führenden deutschen Chemieindustrie. Ingenieure entwarfen die Krematorien; die Bürokratie arbeitete mit einem Elan und einer Effizienz, um die rückständige Länder sie hätten beneiden können. Und selbst das Projekt insgesamt wurde bestimmt von modernem, wenn auch fehlgeleitetem wissenschaftlichen Geist. Das Ganze war im Grunde ein monströser Entwurf sozialen ›Engineerings‹ …9.

      Die Wahrheit ist, daß die einzelnen »Elemente« des Holocaust – die ihn in ihrer Summe erst möglich machten – durchaus normal waren – »normal« nicht im Sinne vertrauter, gründlich beschriebener und klassifizierter Phänomene (dazu war die Erfahrung des Holocaust zu neu), sondern weil diese sich dem Begriff der Zivilisation und ihrer Zielvorstellungen, Prioritäten und inhärenten Visionen unterordneten – allen voran dem Streben nach menschlichem Glück und der perfekten Gesellschaft. Stillman und Pfaff schreiben dazu:

      Es besteht ein gewiß nicht zufälliger Zusammenhang zwischen der angewandten Technologie der industriellen Massenproduktion, die auf schier unerschöpfliche Ressourcen gestützt ist, und der Tötungsmaschinerie des Konzentrationslagers und dem hemmungslosen Umgang mit dem Leben. Man mag jeden Zusammenhang bestreiten, aber Buchenwald gehört zur westlichen Zivilisation wie »River Rouge« in Detroit – wir dürfen Buchenwald nicht als Verirrung einer sonst heilen industriellen Welt hinstellen.10

      Erinnern wir uns an die Schlußfolgerung, zu der Raul Hilberg in seiner unübertroffenen, vorbildhaften Studie zum Holocaust gelangt ist: »Die Vernichtungsmaschinerie unterschied sich grundsätzlich nicht von der gesellschaftlichen Ordnung Deutschlands insgesamt. Die Vernichtungsmaschine war eine spezifische Ausprägung dieser Ordnung.«11

      Richard L. Rubenstein formuliert die meiner Ansicht nach fundamentale Lehre aus dem Holocaust: »Er trägt die Signatur des zivilisatorischen Fortschritts.« Ein janusköpfiger Fortschritt, wie man hinzufügen sollte: In der Endlösung haben das industrielle Potential und das technologische Know-how, dessen sich unsere Zivilisation brüstet, eine Aufgabe nie dagewesener Größenordnung gefunden und diese gemeistert. Und in der Endlösung offenbarte die moderne Gesellschaft erstmalig, welcher Taten sie fähig ist. Nachdem technische Effizienz und perfekte Planung zum Maß aller Dinge erhoben worden sind, müssen wir nun einsehen, daß wir über dem Lobpreis materiellen Fortschritts, den wir der Zivilisation verdanken, dieses wahre Potential sträflich unterschätzt haben.

      Die Welt der Konzentrationslager und der Gesellschaft, die sie hervorbrachte, enthüllt eine eskalierende dunkle Seite der jüdisch-christlichen Zivilisation. Zivilisation bedeutet Sklaverei, Krieg, Ausbeutung und Todeslager. Zivilisation bedeutet aber auch Heilkunst, religöses Ethos, Kunst und Musik. Man hüte sich, Zivilisation und barbarische Grausamkeit als Antithese zu denken … In unserer Zeit wird Grausamkeit, wie fast alle anderen Aspekte des Lebens, nur wesentlich effizienter verwaltet als je zuvor. Grausamkeit ist nicht verschwunden und wird nie verschwinden. Kreativität und Destruktivität sind untrennbare Aspekte dessen, was wir Zivilisation nennen.12

      Hilberg ist Historiker, Rubenstein Theologe. Wo sind die soziologischen Studien, in denen ein vergleichbares Problembewußtsein anklingt, in denen der Holocaust als eine Herausforderung für das Selbstverständnis und die Forschungsarbeit der Soziologen begriffen wird? Gemessen am Maßstab der Untersuchungen von Historikern und Theologen wirkt der Beitrag der Soziologie überwiegend wie ein Akt kollektiven Vergessens und Verdrängens.

      Im großen und ganzen gesehen hat die Lektion des Holocaust kaum Spuren in der soziologischen Lehrmeinung hinterlassen. Deren bekannte Axiome postulieren die heilsame Vorherrschaft der Vernunft über die Emotionen; die Überlegenheit des Rationalen über irrationales Handeln (als verstünde es sich von selbst); oder sie konstatieren den unvermeidlichen Konflikt zwischen Zweckrationalismus und den moralischen Anforderungen, die eine problembelastete Domäne »persönlicher Beziehungen« sind.

      Mir sind nicht viele offizielle Anlässe bekannt, bei denen sich Soziologen in ihrer Eigenschaft als Soziologen mit dem Faktum Holocaust auseinandersetzten. Eine dieser (wenn auch recht kleinen) Veranstaltungen war das Symposium »Western Society after the Holocaust« des »Institute for the Study of Contemporary Social Problems« 1978.13 Bei diesem Symposium unternahm Richard L. Rubenstein den phantasievollen, vielleicht überemotionalen Versuch einer Neuinterpretation der wesentlichen Weberschen Befunde über die Tendenzen der modernen Gesellschaft, und zwar vor dem Hintergrund der Holocaust-Erfahrung. Rubenstein fragte, ob die uns bekannten Tatsachen mit dem theoretischen Instrumentarium Max Webers (von diesem selbst oder seinen Rezipienten) hätten vorausgesehen werden können. Rubenstein meinte diese Frage bejahen zu können, zumindest suggerieren dies seine Thesen: innerhalb der Weberschen Begrifflichkeit von moderner Bürokratie, rationalem Geist, wissenschaftlicher Mentalität, Auslagerung von Werten in den Bereich der Subjektivität sei kein einziger Mechanismus isoliert worden, der nicht auch die Möglichkeit zu Nazigreueln in sich trüge; und mehr noch: aus der von Weber vorgeschlagenen Idealtypik heraus seien die Taten der Nationalsozialisten nicht notwendigerweise als Greuel zu bezeichnen. Beispiel: »Kein von deutschen Medizinern oder Technokraten verübtes Verbrechen steht im Widerspruch zu der Auffassung, daß moralische Werte an sich subjektiv und die Wissenschaft rein instrumenteller Natur und wertfrei sei.« Guenther Roth, bedeutender Weberianer und zurecht anerkannter Soziologe, reagierte mit unverhohlenem Mißfallen: »Ich stimme mit Professor Rubenstein absolut nicht überein. Seine Darlegungen enthalten keinen einzigen Satz, den ich unwidersprochen lassen würde.« Erbost vermutlich über diesen vermeintlichen Angriff auf das Webersche Vermächtnis (provoziert durch die Frage nach der Vorhersehbarkeit) erinnerte Guenther Roth die Versammelten daran, daß Max Weber ein Liberaler gewesen sei, der die Verfassung geliebt und das Wahlrecht für Arbeiter befürwortet habe (wohl um auf diese Weise die Nennung Webers in Zusammenhang mit einer so abscheulichen Angelegenheit wie dem Holocaust ad absurdum zu führen). Roth unterließ es indes, sich inhaltlich mit der These Rubensteins auseinanderzusetzen, und begab sich damit zugleich der Möglichkeit, die »unvorhersehbaren Folgen« jener zunehmenden Herrschaft der Rationalität einer strengen Analyse zu unterziehen, die Weber als wichtigstes Merkmal der Moderne identifiziert und für deren Analyse gerade er so viel geleistet hatte. So verstrich eine Chance ungenutzt, sich mit der furchtbaren »Kehrseite« der scharfsichtigen Theoreme eines Klassikers der Soziologie zu befassen; dabei brauchen wir die Reflexion darüber, ob nicht gerade unser schmerzvolles Wissen vom Holocaust, das wir den Gründervätern der Soziologie natürlich voraushaben, neue Einblicke in früher allenfalls zu erahnende Zusammenhänge und Konsequenzen erlaubt.

      Man darf erwarten,

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