Dialektik der Ordnung. Zygmunt Bauman

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Dialektik der Ordnung - Zygmunt Bauman

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Die meisten Soziologen werden jedoch kaum je so aus der Reserve gelockt.

      Man kann sich in unserem beruflichen Alltag recht gut ohne die Herausforderung Holocaust einrichten. Der soziologische Berufsstand hat den Holocaust nahezu vergessen oder an »Spezialgebiete« delegiert, von wo aus kein Einbrechen in die laufende wissenschaftliche Diskussion droht. Wenn der Holocaust überhaupt soziologisch untersucht wird, gilt er als tragisches Exempel für das, was ungezähmte, angeborene Aggression des Menschen anzurichten vermag. Man verlangt daher, dieses Potential durch Steigerung des Zivilisationsdruckes zu bändigen, und mahnt unermüdlich fachmännische Problemlösungen an. Bisweilen wird der Holocaust gar als Einzelschicksal der Juden, als Konflikt zwischen Juden und Judenhassern abgehandelt (»Fürsprecher« des Staates Israel haben diese Tendenz zur »Privatisierung« häufig gefördert, nicht immer aus eschatologischen Gründen).14

      Dieser Stand der Dinge ist nicht nur, und keinesfalls in erster Linie, beunruhigend aus fachlicher Sicht – wenngleich hier natürlich der Intelligenz und gesellschaftlichen Relevanz der Soziologie beträchtlicher Schaden droht. Viel schwerer wiegt eine andere Dimension des Holocaust: »Was in einem solchen Maßstab passieren konnte, kann überall wieder passieren. Es liegt im Bereich menschlicher Möglichkeiten – Auschwitz, ob wir es wollen oder nicht, hat das menschliche Bewußtsein um einen ebenso entscheidenden Schritt erweitert wie die Landung auf dem Mond.«15 Eine entsetzenerregende Vorstellung, da die gesellschaftlichen Bedingungen für Auschwitz eigentlich nicht verschwunden sind. Keine wirksamen Schritte wurden unternommen, die potentiell und prinzipiell mögliche Wiederholung einer Auschwitz-artigen Katastrophe zu verhindern. Leo Kuper schrieb erst kürzlich, daß »souveräne Nationalstaaten ihren Hoheitsanspruch, wenn sie wollen, auf die Verübung von Genozid, Massakern an bestimmten Volksgruppen und ihrem Staatsvolk ausdehnen können …, wobei die UNO dieses Recht sogar noch verteidigt.«16

      Wenn uns der Holocaust posthum doch wenigstens diesen Dienst erweisen könnte: einen Einblick in die sonst ignorierten »andersartigen Aspekte« jener gesellschaftlichen Prinzipien zu geben, die in die Entwicklung der Moderne eingebettet sind. Meiner Ansicht nach sollte der Holocaust, inzwischen zum Gegenstand ernsthafter historischer Forschung aufgerückt, als gewissermaßen soziologischer »Versuchsaufbau« aufgefaßt werden: Er hat Merkmale unserer Gesellschaft freigelegt, die sich unter »nicht-experimentellen« Bedingungen nicht hätten beobachten und empirisch nachweisen lassen, um den Holocaust als einzigartigen, aber signifikanten und zuverlässigen Test des latenten Potentials der modernen Gesellschaft zu betrachten.

       Die Bedeutung des Zivilisationsprozesses

      Die Vorstellung, Humanität sei aus präsozialer Barbarei erwachsen, wirkt moralisch aufbauend und ist als diagnostischer Mythos tief in das Bewußtsein unserer westlichen Kultur eingegraben. Dieser Mythos macht den Reiz und die Popularität mancher einflußreichen soziologischen Theorie und mancher historischen Abhandlung aus, wurde von diesen umgekehrt aber auch wissenschaftlich-intellektuell untermauert; jüngstes Beispiel ist Berühmtheit und überraschender Erfolg des von Elias beschriebenen »Zivilisationsprozesses«. Abweichlerische Sozialforscher wie etwa Michael Mann oder Anthony Giddens, die sich aus historisch-vergleichender beziehungsweise analytisch-theoretischer Sicht gründlich mit dem vielschichtigen Zivilisationsprozeß befaßt haben und im Gegensatz dazu die Zunahme militärischer Gewalt und staatlicher Repressalien als entscheidende Attribute einer sich entwickelnden Zivilisation sehen, haben es entsprechend schwer, diesen Mythos aus dem Handbuchwissen der wissenschaftlichen Zunft oder gar dem öffentlichen Bewußtsein zu verdrängen. Der Volksglaube ist von jeher nahezu immun gegen die Anfechtung seiner Mythen. Der traditionelle Zivilisationsbegriff wird getragen von einer großen Koalition wissenschaftlich-intellektueller Lehrmeinungen, zu der die liberalkonservative Vorstellung vom glorreichen Ringen zwischen Vernunft und Aberglauben zählt; Max Webers Konzept von der Zweckrationalität, die immer mehr mit immer weniger Aufwand erreicht; das psychoanalytische Versprechen, das Animalische im Menschen zu entlarven, zu packen und zu bändigen; die Marxsche Prophezeiung, Leben und Geschichte würden schließlich, seien die Beschränkungen der Produktivkräfte nur erst abgeworfen, vom Menschen beherrscht; die Zivilisationstheorie von Norbert Elias, die eine Verdrängung der Gewalt aus dem Alltagsleben annimmt; und nicht zuletzt die zahllosen Fachleute, die versichern, soziale Probleme könnten durch vernünftige Politik behoben werden. Im Kern stützt sich diese Allianz auf eine Vorstellung vom »Gartenstaat«, die die regierte Gesellschaft als Feld der Planung, Veredelung und Unkrautvernichtung begreift.

      Wie sollte man unter dem Einfluß dieses im modernen Alltagsbewußtsein tief verwurzelten Mythos den Holocaust anders beschreiben denn als Entgleisung der Zivilisation (und damit des zweckrationalen, vernunftgeleiteten menschlichen Handelns) bei der Bändigung aggressiver Triebreste? Mit anderen Worten: Die Hobbessche Vision gilt nach wie vor, das Hobbessche Dilemma ist noch immer nicht bewältigt. Oder: Wir haben noch nicht genug Zivilisation, der Zivilisationsprozeß harrt noch seiner Vollendung. Die wichtigste Lehre aus dem organisierten Massenmord wäre demnach: Größere zivilisatorische Anstrengungen sind vonnöten, sollen derartige Rückfälle in die Barbarei vermieden werden. Zweifel an der Wirksamkeit solcher Bemühungen und deren Ergebnis sind selten. Wir wähnen uns auf dem richtigen Kurs, alles andere ist eine Frage des Tempos.

      In dem Maße, wie die historische Forschung die Fakten freilegt, gewinnt eine alternative, womöglich glaubwürdigere Interpretation des Holocaust an Kontur: Der Holocaust habe gezeigt, wie schwach und zerbrechlich die menschliche Natur (das heißt die natürliche Abscheu und Abneigung gegenüber Mord und Gewalt, die Angst vor Schuldbewußtsein und immanentes Verantwortungsgefühl) sich erwiesen habe, konfrontiert mit der nüchtern-sachlichen Effizienz der gepriesenen Produkte der Zivilisation: der Technologie, den rationalen Entscheidungskriterien und der Tendenz, Denken und Handeln rational zu begründen und berechenbar zu machen. Die Hobbessche Dimension des Holocaust erhob sich nicht aus einem zu flach geratenen Grab und kam nicht in einem Tumult irrationaler Gefühle über die Menschen. Der Holocaust kam in einer Gestalt, die Hobbes ganz und gar fremd gewesen wäre, auf einem fabrikneuen Vehikel, mit Waffen, die fortschrittlichste Wissenschaft erst ermöglicht hatte, und nach einem wissenschaftlicher Präzision folgenden Schlachtplan. Die moderne Zivilisation war gewiß nicht die einzige, mit größter Wahrscheinlichkeit aber eine notwendige Voraussetzung des Holocaust. Ohne die Zivilisation ist der Holocaust undenkbar. Erst die rational bestimmte Welt der modernen Zivilisation macht den Holocaust möglich. »Der von den Nazis verübte Massenmord an den europäischen Juden stützte sich nicht nur auf die technologischen Errungenschaften der Industriegesellschaft, sondern auch auf die organisatorische Effizienz ihrer Bürokratie.«17 Man führe sich vor Augen, wodurch der Holocaust einzigartig in der Zivilisationsgeschichte wird, die an Beispielen von Massenmord nicht gerade arm ist:

      Aus der Beamtenschaft gewann das hierarchische System das Organisationstalent und die bürokratische Gründlichkeit. Vom Militär übernahm die Vernichtungsmaschinerie Präzision, Disziplin und die Affektlosigkeit. Der Einfluß der Industrie machte sich in der Betonung von genauer Buchführung, Wirtschaftlichkeit und optimaler Verwertung sowie in der industriellen Effizienz der Todeslager bemerkbar. Die Partei schließlich durchtränkte den gesamten Apparat mit ›Idealismus‹, ›Sendungsbewußtsein‹ und einem Gefühl historischer Bedeutung …

      Wir haben es hier in der Tat mit gesellschaftlichen Organisationsstrukturen in einer ganz spezifischen Variante zu tun. Obwohl es um einen Massenmord ungeheuren Ausmaßes ging, kümmerte sich der riesige Beamtenapparat um die korrekten bürokratischen Verfahren, feilte an präzisen Begriffsbestimmungen und regulativen Details und sorgte sich um die Einhaltung bestehender Gesetze und Verordnungen.18

      Die Abteilung der SS-Führung, die mit der Vernichtung der europäischen Juden befaßt war, hieß offiziell Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) – das war nur zum Teil als Deckname gedacht und nur zum Teil erklärbar als »Sprachregelung« mit dem Zweck, zufällige Beobachter von außen zu täuschen, oder um die weniger Hartgesottenen in den eigenen Reihen zu beruhigen. Die Bezeichnung spiegelt auch getreu den organisatorischen

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