Fremde und Fremdsein in der Antike. Holger Sonnabend
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Medea – Die Fremde aus dem Kaukasus
Um sich an ihrem Mann zu rächen, tötet sie ihre Kinder. So lautet, kurz zusammengefasst, der Kern der Geschichte der Medea. Einer der populärsten Stoffe der Antike, mit einer bis in die Gegenwart reichenden Rezeption in der Literatur, der Kunst, auf den Theaterbühnen. Medea ist ein Mythos. Die antiken Griechen arbeiteten gerne mit Mythen. Sie dienten ihnen dazu, allgemein menschliche Probleme, Situationen, Konstellationen dramatisch und fantasievoll zu beleuchten. Und sie sollten Erklärungen und Begründungen für Verhältnisse und Ereignisse liefern, an die man nur noch eine vage Erinnerung hatte und die man gerne konkreter mit Inhalt füllen wollte.
Medea gehört in den Kontext der Geschichte der Argonauten, die nach dem Schiff benannt sind, mit dem sie sich auf die Suche nach dem Goldenen Vlies, dem goldenen Fell eines Widders mit Zauberpotenzial, machten. Das Ziel der Expedition lag in der Landschaft Kolchis am Kaukasus, im frühen geografischen Weltbild der Griechen am Rande der Welt, weit weg von aller Zivilisation. Anführer der Schatzsucher war Jason, ein Königssohn aus Iolkos in Thessalien. Den historischen Hintergrund dieses Mythos bildete die seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. erfolgte Kolonisation des Schwarzmeergebietes durch die Griechen.
Das Unternehmen Goldenes Vlies gestaltet sich kompliziert, ist aber letztlich erfolgreich, weil Jason eine höchst aktive Helferin gewinnt – jene Medea eben, die Tochter des Königs Aietes von Kolchis. Die Frau aus dem Kaukasus verliebt sich in den Griechen, sie heiraten, bekommen zwei Söhne und ziehen schließlich, nach einigen Irrungen und Wirrungen, nach Korinth. Dort regiert ein König namens Kreon, der die Begeisterung für die Fremde vom Ende der Welt nicht teilt. Er bietet Jason seine eigene Tochter als Ehefrau an. Jason geht, mit Blick auf die mit der geplanten Heirat verbundenen beruflichen Perspektiven, auf diesen Handel ein. Er verstößt Medea, reklamiert aber die Kinder für sich. Medeas Rache ist furchtbar: In der Fremde isoliert und als Fremde stigmatisiert, vom Ehemann schmählich verlassen, ermordet sie die eigenen Kinder. Jason wird König von Korinth, wird aber nicht mehr glücklich und nimmt sich aus Verzweiflung das Leben. Medea macht indes Karriere in Athen, wo sie den König Aigeus heiratet und zur Stiefmutter des Helden Theseus avanciert.
Medea vor dem Kindermord, Wandmalerei aus Herculaneum, 1. Jh. n. Chr., nach einem griechischen Original, Archäologisches Nationalmuseum Neapel
Wie jeder antike Mythos, so ist auch der Medea-Mythos vielschichtig, aus verschiedenen Quellen gespeist und in unterschiedlichen Versionen überliefert. Am bekanntesten ist die Tragödie des athenischen Dichters Euripides, die 431 v. Chr. erstmals aufgeführt wurde. Der Tragiker porträtiert Medea gemäß ihrer Herkunft als wild und unzivilisiert, mit magischen Kräften versehen. Jedoch zeigt er, was den tragischen Konflikt zwischen Medea und Jason angeht, mehr Sympathie für die Frau aus der Fremde als für den abtrünnigen griechischen Ehemann. Zwar lässt er ihn in einem ehelichen Streit mit der überlegenen Zivilisation der Griechen argumentieren, wodurch Medea als Fremde, sogar als Barbarin erscheint. Doch angesichts der Situation wirken diese Worte nicht sehr überzeugend, eher überheblich. Das athenische Theaterpublikum war auf der Seite der Medea.
Andromeda – Die Fremde aus Äthiopien
Nicht jede Frau aus der Antike bringt es zu einem eigenen Sternbild. Andromeda hat es geschafft. So erstrahlt sie am nächtlichen Himmel in dauerhaftem Glanz. Die mythische Namensgeberin war eine aus Äthiopien stammende Afrikanerin. Die Geschichte, die die Griechen mit Andromeda verbanden, steht auf der Liste der fantasievollsten Mythen ganz weit oben. Wie Medea war sie eine Frau aus den höchsten Kreisen. Ihr Vater Kepheus war der König der Äthiopier. Den Stein ins Rollen brachte die Königin, Andromedas Mutter Kassiopeia, die wie die Tochter heute den Sternenhimmel ziert. Indem sie behauptete, schöner zu sein als die Nereiden, die bezaubernden Töchter des Meeresgottes Nereus, reizte sie den obersten Meeres- und Erdbebengott Poseidon. Zur Strafe schickt er den Äthiopiern Hochwasser und ein außerordentlich störendes Seeungeheuer. Auf Weisung eines Orakels lässt der König seine Tochter an einen Felsen binden, in der Hoffnung, mit diesem Opfer den zürnenden Gott zu besänftigen. Zum Glück kommt der berühmte griechische Held Perseus vorbei, auf dem Rückweg von einem anderen, gerade erfolgreich bestandenen Abenteuer. Er verspricht Hilfe, wenn Andromeda ihm ihrerseits verspricht, mit ihm zu ziehen – spätere Heirat nicht ausgeschlossen. Andromeda stimmt zu, der Held besiegt das Ungeheuer. Gestört wird das Glück durch Andromedas Onkel, der seinerseits Begehrlichkeiten in Richtung seiner Nichte entwickelt. Doch Perseus verwandelt den lästigen Rivalen mithilfe des Hauptes der Medusa in Stein. Danach lebten sie in Glück und Frieden mit vielen Kindern. Als sie starben, wurden Andromeda und Perseus zu den Sternen versetzt, zusammen mit ihren Eltern.
Auch dieser Mythos spielt an einem Ende der Welt. Medea kommt aus dem Norden, Andromeda aus dem Süden. Medea ist für die Griechen eine Fremde, Andromeda nicht. Der Mythos thematisiert ihr Fremdsein jedenfalls nicht. Sie hat auch keine dunkle Hautfarbe. Vasenbilder aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. zeigen sie zwar in nichtgriechischer, »barbarischer« Tracht, aber im Gegensatz zu ihren dunkelhäutigen Begleitern ist sie eine Weiße. Der Mythos hat sie griechisch eingemeindet durch die enge Anbindung an den großen Helden Perseus. Ihre Heimat Äthiopien ist nur eine geografische Chiffre, markiert aber keinen kulturellen oder zivilisatorischen Unterschied.
Europa – Die Fremde aus dem Orient
Europa ist nach einer Frau aus dem Libanon benannt, also aus griechischer und europäischer Sicht nach einer Fremden. Natürlich nicht nach irgendeiner Fremden, königlichen Geblüts musste sie schon sein. Europa stammte aus einer Hochburg der Phönizier, die in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends den Handel im Mittelmeerraum beherrschten und sogar bis nach Spanien kamen. Europa war die Tochter des Königs Agenor, der die reiche Stadt Sidon regierte (andere Quellen sprechen von Tyros). Auf einem seiner zahlreichen amourösen Abenteuer kam der oberste griechische Gott Zeus an die Küste Phöniziens, erblickte am Strand die schöne Europa im Kreise ihrer Gespielinnen und fragte sich, wie er es anstellen könne, sie für sich zu gewinnen. Er verwandelte sich schließlich in einen Stier, lud die Königstochter ein, auf seinem Rücken Platz zu nehmen und rauschte mit ihr über das Meer bis zur Insel Kreta. Nachdem Zeus wieder seine eigentliche Gestalt angenommen hatte, kamen sich der Gott und Europa so nahe, dass am Ende drei Söhne geboren wurden, deren ältester den Namen Minos erhielt. Dieser wurde König auf Kreta und residierte im Palast von Knossos.
Jupiter entführt in Gestalt eines Stiers die Königstochter Europa, Wandmalerei aus Pompeji, Archäologisches Nationalmuseum Neapel
Ein bemerkenswerter Mythos: Er dokumentiert, dass die Griechen wussten, woher ihre Kultur kam – aus dem Vorderen Orient, der dem Westen damals in wirtschaftlicher, technologischer und wissenschaftlicher Hinsicht weit voraus war. Ohne die Impulse aus dem Osten hätten sich die Griechen nicht so entwickelt, wie sie es getan haben. Bemerkenswert ist einerseits, dass sie sich, wie der Europa-Mythos zeigt, dessen durchaus bewusst waren, und dass sie andererseits diese Impulse gerne aufnahmen und etwas daraus gemacht haben.
Dieser Vorgang des Kulturtransfers aus dem Orient spiegelt sich auch in einem Anschluss-Mythos wider. Als Europa verschwunden war, machte sich ihre Familie Sorgen. So wurde ihr Bruder Kadmos beauftragt, nach der Schwester zu suchen. Er wandte sich, wie auch die Griechen es zu tun pflegten, an das Orakel von Delphi, das dazu riet, die Nachforschungen nach Europa aufzugeben und stattdessen in Böotien die Stadt Theben zu gründen. So ging der Phönizier Kadmos in die Annalen ein als