Fremde und Fremdsein in der Antike. Holger Sonnabend
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Bunte Truppe
Der Historiker Thukydides über das militärische Aufgebot, das die Athener 415 v. Chr. nach Sizilien schickten (6,43):
»Und nun war es so weit, dass die Athener von Kerkyra (Korfu) in See stachen und hinüber fuhren nach Sizilien. Trieren waren es im Ganzen 134 sowie zwei Fünfzigruderer aus Rhodos. Davon kamen 100 aus Athen – 60 Schnellfahrer, die anderen Truppenschiffe –, die übrige Flotte aus Chios und von den anderen Verbündeten; Gepanzerte insgesamt 5100, davon Athener 1500 nach der Liste und 700 von den Ärmeren als Schiffsbesatzung. Die anderen waren mit aufgebotene Hilfsvölker, teils von den Untertanen, aber auch 500 aus Argos und 250 aus Mantineia und Söldner. Schützen im Ganzen 480, wovon 80 aus Kreta waren, 700 Schleuderer aus Rhodos und Plänkler aus Megara, von den Verbannten 120 und ein Lastschiff für Pferde mit 30 Reitern.«
Die Athener nahmen Fremde aus wirtschaftlichen Gründen gerne auf, schlossen sie aber rigoros aus ihrer Bürgergemeinde aus. Für den Umstand, dass griechische Stadtstaaten wie Athen an einer hohen Bevölkerungszahl, nicht aber an einer hohen Bürgerzahl interessiert waren, waren strukturelle Gründe verantwortlich. In Theorie und Praxis galt die Regel: Eine Polis darf nicht zu groß sein. Die Polis lebte von der politischen Partizipation der Bürger. Das erforderte eine Limitierung der politisch Berechtigten, denn Politik funktionierte nach Meinung der Griechen nur im intensiven Austausch und in kommunikativer Atmosphäre. Im Idealfall sollten sich alle persönlich kennen. Zu viele Fremde würden das System zerstören. Der Universalgelehrte Aristoteles, auf dessen imposanter Visitenkarte auch der Eintrag »Staatstheoretiker« steht, sagte, zehn Menschen seien für einen Staat zu wenig, hunderttausend zu viel (Nikomachische Ethik 1170 b31). »Wer könnte«, so fragte er rhetorisch, »Stratege einer übergroßen Masse oder wer ein Herold sein, wenn er nicht eine Stimme wie Stentor hätte?« (Politeia 1326 b5) – also wie jene Figur des griechischen Mythos, die im Rahmen des Trojanischen Krieges mit gewaltigen phonetischen Fähigkeiten auftritt.
Die meisten griechischen Stadtstaaten erfüllten das Anforderungsprofil des klugen Wissenschaftlers. Nur die Kultur- und Wirtschaftsmetropole Athen fiel aus der Rolle. In ihrer Glanzzeit im 5. Jahrhundert v. Chr. lebten hier geschätzt etwa 250 000 Menschen – nicht alle in der Stadt selbst, sondern auch in dem zugehörigen agrarisch geprägten Umland von Attika. Dies war jedenfalls der Zustand, nachdem Athen durch den Sieg gegen die Perser zur wichtigsten Stadt in Griechenland aufgestiegen war. Nach dem verheerenden Krieg gegen Sparta zwischen 431 und 404 v. Chr. (der »Peloponnesische Krieg«) sank die Einwohnerzahl aufgrund hoher Verluste signifikant. Von den 250 000 Bewohnern der Glanzzeit besaßen ca. 30 000 – knapp über 10 % – das Bürgerrecht. Andere Schätzungen gehen – zu hoch – von bis zu 50 000 Bürgern aus. Dabei handelte es sich um die politisch vollberechtigten Männer über 18 Jahren. Frauen und Kinder blieben also ausgeschlossen, wie auch die Sklaven und die Fremden – auch wenn diese, wie die Metoikoi, dauerhaft ortsansässig waren. Deren Zahl dürfte zwischen 25 000 und 35 000 gelegen haben. Das heißt: Gemessen an der Gesamtbevölkerung von 250 000 machten die Fremden einen Anteil von mindestens 10 % aus. Es gab in Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. daher genauso viele Fremde wie Bürger. Im 4. Jahrhundert v. Chr. waren die Verhältnisse nicht viel anders. Um 340 v. Chr. wurde eine Volkszählung durchgeführt. Dabei kam heraus (Athenaios 272c), dass damals in Athen 21 000 einheimische Vollbürger lebten, während die Zahl der (männlichen) Metoikoi bei 10 000 lag. Ein Drittel aller athenischen Haushalte waren »fremde« Haushalte.
Metoikoi und ihre Herkunftsorte
Die Fremden, die dauerhaft in Athen lebten, kamen aus 380 Städten und Orten zwischen Sizilien und Kleinasien. Die größte Gemeinde stellten Zuwanderer aus der Handelsmetropole Milet im Westen der heutigen Türkei. Auf Platz zwei lagen Griechen aus der Stadt Herakleia am Schwarzen Meer. Nach Ausweis der Grabinschriften kamen viele auch aus Ägypten, Thrakien und Zypern.
Der Anspruch auf überschaubare Verhältnisse war ein Grund für die fehlende Bereitschaft zur Integration von Fremden in die politische Gemeinschaft, die Mentalität des Polisbürgers ein weiterer. Das Bürgerrecht galt als exklusives Privileg, auf das man stolz war und das man nicht gerne Fremden anbot. Die Polis verstand sich als ein geschlossener Personenverband. Es galt das Prinzip der Abstammung. In der Regel musste ein Elternteil seine Herkunft aus der jeweiligen Stadt nachweisen, egal, ob Vater oder Mutter. Die Athener, die sich gerne ihrer Weltoffenheit rühmten, waren in dieser Hinsicht noch restriktiver. 451/50 v. Chr. wurde auf Betreiben des Perikles ein Gesetz beschlossen, wonach das Athener Bürgerrecht auf Kinder beschränkt wurde, deren beide Elternteile aus Athen stammten.
Perikles selbst bewies dabei eindrucksvoll, dass für einen Politiker gelegentlich andere Maßstäbe gelten als für jene Menschen, die von ihren Gesetzen betroffen sind. Er verliebte sich in eine Frau namens Aspasia, die aus Milet stammte. Sie war eine Griechin, aber nach den von den Athenern aufgestellten Regeln eine Fremde. Als er sie kennenlernte, war Perikles verheiratet – ordnungsgemäß mit einer Athenerin. Wie der Biograf Plutarch lapidar mitteilt, waren sie aber nicht glücklich miteinander, und Perikles überließ sie großzügig einem anderen Mann. Wahrscheinlich war der wirkliche Grund der Trennung das Erscheinen der Aspasia, die dem um gut 25 Jahre älteren Perikles den Kopf verdreht hatte. Über den rechtlichen Status der Verbindung sind in der modernen Forschung viele Diskussionen geführt worden. Eine reguläre Ehe führten Perikles und Aspasia vermutlich nicht, denn mit einer offiziellen Heirat hätte er gegen die Prinzipien seiner eigenen Bürgerrechtspolitik verstoßen, die ihm bei der athenischen Bevölkerung viele Sympathien eingebracht hatte. Der Sohn, den Aspasia bald zur Welt brachte und dem die Eltern den Namen Perikles gaben, wurde demzufolge von den Gegnern des Perikles in der Diktion wenig freundlich, in der Sache aber durchaus zutreffend als »Bastard« bezeichnet. Nach rechtlichen Kategorien war die Verbindung zwischen Perikles und Aspasia also so etwas wie ein Konkubinat. Da half es auch nicht, dass Perikles, wenn er morgens zur Arbeit ging, seine Aspasia vor der Haustür zum Abschied »zärtlich küsste«, wie professionelle Voyeure zu bezeugen wussten.
Perikles war ein kluger Politiker, doch die Umsetzung der neuen Verordnung hatte er sich wahrscheinlich einfacher vorgestellt. Denn nun erhob sich eine wichtige Frage: Ab wann sollte das Gesetz Gültigkeit haben? Waren Athenerinnen oder Athener, die nur über einen aus Athen stammenden Elternteil verfügten, nun plötzlich keine Athenerinnen und Athener mehr? Mussten sie sofort aus den Listen der Bürger gestrichen werden? Die Nagelprobe folgte auf dem Fuß. Ein auswärtiger Potentat – die Rede ist vom »König von Ägypten«, das damals allerdings unter persischer Herrschaft stand – vermachte dem Volk von Athen, wie Plutarch (Per. 37) berichtet, ein Geschenk von 40 000 Scheffel Weizen. Dem »Volk von Athen«? Das konnten nur die Bürger sein. Aber wer war nach dem Gesetz des Perikles nun plötzlich kein Bürger mehr?
Porträtbüste der Aspasia, Gefährtin des Perikles, 5. Jh. v. Chr., Vatikanische Museen, Rom
»Als das Getreide unter die Bürger verteilt werden sollte, gab es infolge dieses Gesetzes plötzlich eine Menge von Prozessen gegen die nicht vollbürtigen Athener, die bis dahin unbemerkt geblieben und übersehen worden waren. Mancher fiel auch falscher Anklage zum Opfer. Gegen 5000 wurden auf diese Weise überführt und in die Sklaverei verkauft. Die Zahl derer, die aufgrund der Prüfung das Bürgerrecht behielten und als Athener bestätigt wurden, betrug 14 040.«
In die Sklaverei verkauft – das war ein merkwürdiges, sogar tragisches Schicksal.