Fremde und Fremdsein in der Antike. Holger Sonnabend

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Fremde und Fremdsein in der Antike - Holger Sonnabend

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in Ehren.

       6. Leben mit Fremden – Leben als Fremde

      »Es kommt wegen der Größe der Stadt aus aller Welt alles zu uns herein.« Perikles bei Thukydides 2,38

      »Aus ganz Hellas wandten sich die Verdrängten und Flüchtlinge, immer die Mächtigsten, nach Athen als an einen sicheren Ort, wurden dort Bürger und machten so schon seit ältester Zeit die Stadt noch größer und volkreicher …«

      Thukydides 1,2

      Für die Griechen war nicht jeder Fremde gleich fremd. Sie nahmen eine deutliche Unterscheidung zwischen griechischen Fremden und nichtgriechischen Fremden vor. Wer kein Grieche war, war ein Barbar. Wer Grieche war, aber einem anderen Stadtstaat angehörte, war kein Barbar, aber doch ein Fremder. Zwar schufen die Griechen durch die Faktoren Abstammung, Sprache, Religion und Lebensformen eine kulturelle Identität, mit der sie sich von Persern, Libyern, Ägyptern oder anderen Völkern – den »Barbaren« eben – abgrenzten. Jedoch bildeten sie in der Antike zu keinem Zeitpunkt eine rechtliche oder gar staatliche Einheit. Die Griechen waren sich selbst ziemlich fremd, sie waren auch in Griechenland fast überall Fremde. Das lag an den politischen Strukturen der klassischen Zeit. Griechenland bestand aus etwa 700, meist sehr kleinen Stadtstaaten, von den Griechen »Poleis« genannt. Jede Polis war autonom und frei, mit eigenen Gesetzen, eigenem Bürgerrecht, eigenen politischen Funktionären, eigenem Kalender, eigener Währung. Sie definierte sich als Personenverband und nicht über das Territorium, in dem die Menschen lebten. So gab es die Athener, die Spartaner, die Korinther, die Thebaner. Schneller als ein antiker Grieche konnte man kaum zum Fremden werden: Er musste nur seine Stadt verlassen, über einen Berg ins nächste Tal gehen, die Grenzen der Nachbarstadt überschreiten – und schon war er ein Fremder.

      Kam man nur zu Besuch oder um geschäftliche Angelegenheiten zu regeln, kehrte man anschließend in die eigene Stadt zurück und war kein Fremder mehr. Anders aber verhielt es sich mit jenen Menschen, die für länger oder sogar auf Dauer oder sogar für immer in einer fremden Stadt lebten. Am besten sind in dieser Hinsicht die Verhältnisse in der Polis Athen bekannt. In klassischer Zeit entwickelte sich die Stadt in Attika zu einem der wichtigsten urbanen Zentren in Griechenland. Hierher strömten viele Fremde, Nichtgriechen wie auch Griechen. Sie wurden angelockt von den wirtschaftlichen Möglichkeiten, welche die pulsierende Metropole bot, wie auch von deren kulturellem Glanz.

      Wurden sie von der Bevölkerung mit offenen Armen empfangen? Die Politiker jedenfalls sendeten freundliche Signale aus. Allen voran der berühmte Solon. Seine Glanzzeit hatte er vor 2600 Jahren, zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. Er war ein wahres Multitalent: Politischer Reformer, Wegbereiter der athenischen Demokratie, Gesetzgeber, Lyriker, einer der Sieben Weisen der Antike. Mehr passte nicht auf die historische Visitenkarte. Das Ziel, das letztlich hinter all seinen Aktivitäten und all seinem Eifer stand, war Stabilität der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Athen. Zuvor hatte es eine Serie von Bürgerkriegen und Konflikten gegeben, ein tiefer Spalt war durch die Gesellschaft gegangen. Ein ganzes Paket von Gesetzen und Maßnahmen sollte dazu dienen, die bedrohte Ordnung wiederherzustellen und die Menschen dafür zu gewinnen, sich für das Wohlergehen und das Funktionieren des Staates einzusetzen.

      In diesen Rahmen gehört auch ein bemerkenswertes Gesetz über den Zuzug von Fremden und die Verleihung des Athener Bürgerrechts an Fremde, eine Art antiker Staatsbürgerschaft (Plutarch, Solon 24,4). Unter zwei Voraussetzungen sollten Fremde einen Anspruch haben, in die Bürgergemeinschaft der Athener aufgenommen zu werden: Wenn sie für immer aus ihrer Heimat verbannt worden waren oder wenn sie bereit waren, mit ihrer ganzen Familie nach Athen überzusiedeln, um dort ein Handwerk oder Gewerbe zu betreiben. Willkommen waren also, wie der zweite Punkt zeigt, Migranten, die in der Lage waren, das wirtschaftliche Leben in Athen weiter anzukurbeln. Warum aber zeigte sich Athen offen für Menschen, die man aus ihrer Heimat vertrieben hatte? Vertreibungen waren in dieser Zeit in der Regel das Ergebnis von politischen Unruhen und Bürgerkriegen. Wer auf diese Weise nach Athen kam, war ein Flüchtling – weil er die Heimat entweder freiwillig oder gezwungenermaßen verlassen hatte. Wenn Solon Flüchtlingen und Vertriebenen den Weg nach Athen ebnete, so stand dahinter nicht die Hoffnung, für die Verleihung eines Menschenrechtspreises infrage zu kommen. Vielmehr stand im Vordergrund das ganz rationale und pragmatische Kalkül, mit den politischen Flüchtlingen Menschen Schutz und Sicherheit zu gewähren, die in der Konsequenz alles darangeben würden, sich in ihrer neuen Heimat, wenn auch nicht in führender Position, politisch und gesellschaftlich zu engagieren.

      Humanitäre Gründe spielten bei Solon also keine Rolle, maßgeblich war der Wunsch, von den Fremden zu profitieren – wirtschaftlich und politisch. Menschlichkeit im modernen Sinne war ohnehin selten bis gar nicht im Spiel, wenn sich Menschen im antiken Griechenland um antike Fremde kümmerten. Meistens bis immer standen dahinter subjektive Interessen. Unter Solon ging die Rechnung auf, wie die weitere Entwicklung zeigt. Die eingebürgerten Fremden bildeten zusammen mit der einheimischen Bevölkerung das wirtschaftliche Rückgrat des demokratischen Staates Athen. Ihre Stellung war deutlich besser als die der rechtlosen Sklaven, bei denen es sich ebenfalls meistens um Fremde handelte, deren Zuzug nun allerdings alles andere als freiwillig war. Es handelte sich bei ihnen um Kriegsgefangene, die vor allem in der Landwirtschaft und im Bergbau eingesetzt wurden.

      Doch war die Einbürgerung von Fremden nicht der Normalfall. Überhaupt wurde die Verleihung des Bürgerrechts an Fremde in der Zeit nach Solon restriktiver gehandhabt. Im Normalfall wurde ihnen die Eintrittskarte in die Bürgergemeinschaft der Athener vorenthalten. Sie bekamen in Athen den Status von Metoikoi, wörtlich »Mitwohnende«. Andere Städte gingen ähnlich vor, fanden nur andere Begriffe für die Fremden, die dauerhaft bei ihnen lebten. Ein Metoikos war, anders als die Sklaven, persönlich frei. Anders als die Bürger hatte er, wie seine ganze Familie, keinerlei politische Rechte. Vom politischen Leben, das in der Demokratie der Athener besonders intensiv war, blieben sie vollständig ausgegrenzt. Weder durften sie wählen noch sich an den Abstimmungen über Gesetze beteiligen.

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      Die Akropolis von Athen, 2008

      Für die Zuordnung in die Gruppe der Metoikoi war ein genaues bürokratisches Prozedere vorgeschrieben. Bis zu 30 Tage durfte sich ein Fremder in der Stadt aufhalten, ohne sich bei den Behörden melden zu müssen. Er galt für diese Zeit als Xenos, was sowohl »Fremder« als auch »Gast« bedeutete. Nach 30 Tagen hatte er sich in die Liste der Metoikoi einzutragen. Die Aufnahme, die regelmäßig gewährt wurde, da es keine Zugangsbeschränkung gab, war gleichbedeutend mit der dauerhaften Aufenthaltsberechtigung. So konnten die neuen Athener, die keine wirklichen Athener waren, nun ihren Geschäften nachgehen und sich ein neues Leben aufbauen, sahen sich aber zugleich einigen Restriktionen ausgesetzt. Nicht allein, dass sie politisch keinerlei Rechte hatten. Sie mussten auch eine besondere Kopfsteuer, Metoikion genannt, zahlen. Sie war nicht sehr hoch und diente vor allem dazu, die Ausgrenzung der Fremden deutlich zu machen. Ein Bürger hatte keine regelmäßigen Steuern zu zahlen, sondern wurde von Zeit zu Zeit, bei Bedarf, zur Zahlung von Sonderabgaben verpflichtet. Vor Gericht durften Fremde nicht selbstständig auftreten, sondern hatten sich einen Interessenvertreter zu wählen. Der gravierendste Unterschied zu den Bürgern bestand darin, dass die Fremden keinen Grundbesitz erwerben durften. Diese Bestimmung folgte der Logik, warum man Fremde prinzipiell mit offenen Armen empfing: Sie sollten sich um Handel, Gewerbe und Handwerk kümmern und auf diese Weise die athenische Wirtschaft ankurbeln.

      Weniger Rechte, dafür aber gleiche Pflichten – unter diese Kategorie fällt die Praxis, Fremde zum Militärdienst heranzuziehen. In Athen gab es, wie in den anderen griechischen Stadtstaaten, keine Berufsarmee und kein stehendes Heer. Wenn Krieg ausbrach – in der klassischen Zeit alles andere als eine Seltenheit –, zogen die Bürger ins Feld, an ihrer Seite Metoikoi, die, wenn sie sich

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