MordsSchweiz. Christof Gasser
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Miranda Büttikofer ist nach dem Verdikt zusammengebrochen, wir mussten die Ambulanz aufbieten. Die jüngste Tochter Samira, die mit ihren Geschwistern den Prozess mitverfolgt hatte, hat laut aufgeschrien und wollte auf mich losgehen. Wir mussten den Sicherheitsdienst alarmieren. Das hat mich alles nicht beeindruckt. So habe ich geurteilt und begründet. Dies ist im Sinne des Gesetzes das beste und gerechteste Urteil, zu dem ich in diesem Fall kommen konnte. Ich ziehe den Schlussstrich und gehe mit einem guten Gewissen ins Bett.
Mein Wecker blökt. Es ist sechs Uhr früh, wie jeden Morgen, wenn er blökt. Auch heute hätte er getrost schweigen können, denn ich liege schon seit Stunden wach. Dieser Fall … Erneut hat er mir den Schlaf geraubt. Das mit dem Schlussstrich hat nicht funktioniert. Die Sache rumort noch immer in meinem Kopf herum, etwas stört mich, aber ich komme einfach nicht darauf, was es ist.
Ich muss das zur Seite legen, muss mich auf den neuen Fall konzentrieren, der heute auf mich wartet; ein Mann wird von seiner Exfrau beschuldigt, sich an ihrer Deutschen Dogge sexuell vergangen zu haben. Das wird wieder ein Theater geben.
Aufstehen, frühstücken, rasieren, noch einmal die Anklageschrift durchgehen, schon bin ich wieder unterwegs zum Gericht. Ich gehe immer zu Fuß. Mein Arbeitsweg ist ein Spaziergang durch Berns Lauben, während die Altstadt erwacht. Dieser Moment der Ruhe tut mir gut, bevor sich neue menschliche Abgründe vor mir auftun.
Beim großen Brunnen in der Gerechtigkeitsgasse wechsle ich die Straßenseite, über mir auf dem Sockel steht die Statue der Justitia, die Augen verbunden, die Waage in der einen Hand. »Guten Morgen«, sage ich laut zu ihr, auch das ein Ritual. Sie antwortet mir nie.
So war das zumindest bis heute.
»Sie Arschloch!«, brüllt mir in dem Moment eine Frauenstimme entgegen.
Mein Herz setzt ein paar Schläge aus. Ich fahre zusammen und blicke erschrocken zu Justitia hoch.
»Sie haben die falsche Person verurteilt!«
Erst jetzt realisiere ich, dass nicht Justitia schreit, sondern eine junge Frau, die hinter dem Brunnentrog hervorspringt. Sie kommt mir bekannt vor.
»Mein Vater war ein Scheusal, er hat uns jahrelang gequält. Nicht meine Mutter, mein Vater sollte hinter Gittern sitzen.«
Samira. Die jüngste Tochter. Die gestern im Gerichtssaal auf mich losgehen wollte. Ich schaue mich um, ob ich jemanden zu Hilfe rufen kann. Doch da ist niemand, und auf Justitia kann ich nicht zählen.
»Beruhigen Sie sich«, sage ich zu der Frau, die fast noch ein Mädchen ist. Sie steht jetzt direkt vor mir und kommt mir zu nah, ich weiche zurück, stolpere um ein Haar.
»Und wenn, dann nicht meine Mutter, sondern ich! Ich habe ihm die Tabletten in den Drink getan, ich wollte ihn erwürgen! Und ich hätte es zu Ende gebracht, wenn meine Schwester und meine Mutter mich nicht zurückgehalten hätten.«
Sie will mich schubsen. Ich weiche aus. Mein Instinkt befiehlt mir, wegzurennen, doch etwas hält mich zurück. Was, wenn sie die Wahrheit spricht?
»Warum sagen Sie das erst jetzt, erst hier, wieso haben Sie das nicht früher gestanden?«
»Ich musste meiner Mutter versprechen, es niemandem zu sagen. Sie will die Strafe für mich tragen, damit mein Leben nicht zerstört ist. Das hier ist kein Geständnis, das werden Sie nie kriegen. Ich will nur, dass Sie eins wissen: Sie haben falsch geurteilt. Sie sind ein schlechter Richter.«
Sie speit mir die Worte ins Gesicht, stößt mich mit beiden Händen gegen die Brust, ich rudere mit den Armen, verliere das Gleichgewicht, stürze, bin am Boden, reiße die Hände vors Gesicht, doch der Schlag folgt nicht, sie dreht sich um und rennt davon, ist so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht ist.
Verblüfft bleibe ich zurück. Ich stehe auf und klopfe meinen Anzug ab, blicke zu Justitia hoch und kann mir ein Ächzen nicht verkneifen. Die Glocken der Nydeggkirche schlagen die Viertelstunde. Ich muss weiter. Die nächste Verhandlung beginnt gleich. Wieder muss ich ein Urteil finden.
Doch welches Urteil ist schon gerecht?
Erinnerungen einer Auftragskillerin an einem goldenen Herbsttag
am Lago Maggiore
Peter Beck
Der Lago Maggiore flimmerte und glitzerte wie die Diamanten auf dem samtenen Tuch in meinem Luganeser Banktresor. Auf der anderen Seite des Sees leuchtete der Monte Gambarogno in seinem Herbstkleid. Nach den heftigen Niederschlägen der letzten Tage war der Himmel heute wolkenlos, die Sicht klar. Hier war der Indian Summer auszuhalten.
Wobei Indian Summer viel besser klang als Altweibersommer, vor allem wenn man nicht mehr die Jüngste war. Aber die Gelenke schmerzten hier im Tessin deutlich weniger als am Zürichsee. Es war eine gute Idee gewesen, von der Goldküste nach Ronco sopra Ascona in die Residenz zu dislozieren. Residenza. Tönte auch besser als Altersheim, gerade auf Italienisch.
Doch insgesamt war es ein gepflegtes Haus, mit Gourmetküche, Wellness-Spa, Schwimmbad, einem weitläufigen Park und angegliederter Arztpraxis, die, im Gegensatz zu den Heimen für Krethi und Plethi, rund um die Uhr besetzt war und auch Botox und so anbot. Nicht ganz billig, aber das letzte Hemd hatte ja keine Taschen. Und für die wöchentliche Pediküre musste man hier nicht mehr in ein Taxi mit klebrigen Plastiksitzen steigen. Das Sonnenlicht flutete das Appartement und wärmte die nackten Füße mit den frisch lackierten Nägeln. Dior Nagellack-Rouge Pandore mit Gel-Effekt.
Sie wackelte mit den Zehen und rekelte sich in der Chaiselongue.
Leider fanden hier nicht alle Möbel Platz, nur eine Handvoll Antiquitäten, einige Perserteppiche und die Ölbilder aus dem Schlafzimmer. Die Leichen lagen noch immer unter dem Weinkeller in der Villa. Niemand würde sie je finden. Sie schaute auf ihre Hände, mit denen sie diese noch eigenhändig einbetoniert hatte. Mittlerweile war die fast durchsichtige Haut voller Altersflecken. Sie berührte die edelsteinbesetzten Ringe an den von Gicht geplagten Fingern. Das Alter war ein Graus, aber wenigstens konnte man sich ab und zu etwas gönnen.
Ein Klopfen holte sie in die Gegenwart zurück. »Ja, bitte?«
Die Tür öffnete sich, und eine unbekannte Pflegerin im türkisfarbenen Kittel der Residenz schob einen Trolley herein. »Guten Tag, Frau Neidhart. Ich vertrete heute Doktor Mancini, der leider unpässlich ist. Mein Name ist Alessia Werffeli.«
Keine Pflegerin und ein bisschen jung für eine Ärztin, aber heute wirkten ja auch Vierzig-, Fünfzigjährige jung. Ab einem gewissen Alter konnte man sich allerdings nicht mehr einreden, man sei nur so alt, wie man sich fühle. »Guten Tag, Frau Doktor.«
Die Ärztin streifte sich blaue Plastikhandschuhe über. »Ich komme wegen Ihrer monatlichen Vitalzeichenkontrolle.«
Leichtes Kopfschütteln. Der September war wieder einmal nur so verflogen. Schon wieder Vitalzeichenkontrolle. Vitalzeichenkontrolle. Auch so ein Wort! Früher hatte es genügt, mit den Fingerspitzen den Puls zu nehmen, und man wusste, ob einer hinüber war oder ob man noch einmal abdrücken musste.
»Wie geht es uns heute denn so?«
Alessia hatte diesen forciert munteren Ton, der offenbar Voraussetzung war, um in der Residenz