Odersumpf. Marina Scheske
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Während Konrad seine Motivation für einen Umzug aufs Land in der Rückschau fand, in der nostalgischen Erinnerung an seine Kindheit, schaute Laura nach vorn. Sie wollte das Beste für ihre Kinder. Was das bedeutete, hätte sie nicht in Worten ausdrücken können, aber sie sah jeden Tag, dass es so nicht optimal war. Sie hatte das Gefühl, ihre Kinder einzusperren, ihnen nicht genug Möglichkeiten geben zu können, sich draußen an der frischen Luft auszutoben. An den Wochenenden machten sie zwar Ausflüge in die nähere ländliche Umgebung, aber letztendlich waren es nur wenige Stunden, in denen die Kinder draußen herumtollen konnten. Und die Ausflüge auf die Spielplätze des Stadtviertels waren alles andere als ein Naturerlebnis.
Laura war kein Landkind gewesen. Sie hatte auch keinen Urvater gehabt, der den Spaten in die Erde stieß und mit seinen Bienen sprach, sie wuchs in einem Frauenhaushalt auf. Gemeinsam mit der Großmutter wohnte sie mit ihrer Mutter im Plattenbau mitten in Friedrichsfeld.
Ihren Vater hatte Laura nie kennengelernt. Als sie vierzehn war, hörte sie zum ersten Mal aus dem Munde ihrer Mutter von seiner Existenz. Zwar hatte sie die Tatsache, dass da irgendwo ein Vater sein musste, auch in frühester Kindheit nie angezweifelt, dennoch blieb dies in all den Jahren abstrakt und nicht fassbar, so entfernt, wie für Konrad der Gott seines Urvaters gewesen war. Nun erfuhr sie von ihrer Mutter, dass es sich bei ihrem Vater um einen ehemaligen Kommilitonen handelte, der wie sie an einer Moskauer Universität studiert hatte, ein gebürtiger Russe. Lauras Mutter hatte das letzte Studienjahr an dieser Universität verbracht. Sie kam zurück, machte ihre Abschlussprüfungen, brachte Laura zur Welt und wurde Lehrerin für Deutsch und Russisch. Später arbeitete sie freiberuflich als Übersetzerin. Laura interessierte sich herzlich wenig für diesen nebulösen Vater in einem sehr fernen Land. So wie ihre Mutter war sie es von klein auf gewöhnt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Eine väterliche Leitfigur war ihr ebenso fremd wie eine höhere Instanz in Form eines Gottes. Laura hatte keine Projektionsflächen, auch war da niemand, dem sie die Schuld für etwas zuweisen konnte, weil sie ihre Entscheidungen stets völlig eigenständig traf. Konrad nannte das eigensinnig, womit er nicht unrecht hatte. Die Kehrseite dieser Eigensinnigkeit war ihre Härte gegen sich selbst.
Und so verhielt es sich auch jetzt, an diesem Vormittag in Friedrichsfeld. Umgeben von Tellerstößen und Tassen, Schüsseln und Papier stand Laura in der Küche, starrte aus dem Fenster, nagte am Daumennagel und ärgerte sich. Wie konnte ausgerechnet ihr so etwas passieren? Und wie konnte es sein, dass in diesem Land, im Land der ehemaligen DDR, plötzlich überall diese braune Brut auftauchte, sich bei der Bevölkerung anbiederte und von den Alteingesessenen geduldet wurde?
War dieses Land nicht immer das Land des konsequenten Antifaschismus gewesen? War das nicht das Einzige, was über den Zusammenbruch der DDR hinaus Wert und Gültigkeit behalten hatte?
Lauras Mutter war Genossin der SED gewesen. Sie fand das selbstverständlich, denn als Arbeiterkind hatte sie der Staat gefördert und sie hatte auf Kosten der Arbeiterklasse studiert. Dennoch, erinnerte sich Laura, hatten die Freunde ihrer Mutter nie ein Blatt vor den Mund genommen. Alles, was die da oben, die Greise im Politbüro, anzettelten, wurde von ihnen heftig diskutiert und angezweifelt, wenn auch nur im privaten Kreis. Doch eines wurde nie angetastet: die antifaschistische Grundhaltung, sie war heilig.
Und so schien es Laura nach ihren Creywitzer Erlebnissen, als wäre erst jetzt das vollzogen worden, wovon ihre Mutter in den ersten Jahren nach der Wende oft gesprochen hatte, die Vereinnahmung durch den Westen.
Laura hatte das nie so empfunden. Vielleicht, weil sie vor dreißig Jahren, als die Mauer fiel, noch ein Kind war, jedoch wohl besonders deshalb, weil sie den Wert einer Demokratie zu schätzen wusste als ein Instrument, das dem Individuum viel Platz zur Selbstverwirklichung einräumte. Das kam ihrem Naturell sehr entgegen, sie konnte und wollte sich nicht bevormunden lassen. Nun aber dachten sie beide, dass zu wenig Staat da war und diese Freiheit aufs Übelste missbraucht wurde. Konrad war es, der an dieser Stelle am lautesten nach dem Staat rief, was Lauras immerwährenden Verdacht bestärkte, dass er selbst sich nach einer Leitfigur sehnte, zumindest nach einer Staatsführung, der man vertraute und zutraute, dass sie die Werte ihrer Verfassung unter Schutz stellte und konsequent diejenigen bestrafen würde, die diese Werte in den Dreck zogen.
Das war natürlich recht und billig, dennoch widerstrebte es ihr. Ihr Gefühl und ihr Charakter sagten ihr, dass das auf Dauer keine Lösung war, weil es die Gefahr der Bevormundung in sich trüge. Was war richtig, was falsch? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, die braune Pest hatte das Land bereits wie Mehltau überzogen.
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