Odersumpf. Marina Scheske
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Was wollen wir überhaupt hier, dachte sie. Am Rand von Friedrichsfeld, in dieser gottverlassenen Gegend, die als sozialer Brennpunkt bekannt ist.
Die Mieten waren günstig. Hier wohnten alte Leute mit kleinen Renten und junge Familien, die sich nichts anderes leisten konnten. Es gab eine Kaufhalle, eine Grundschule, eine Kita, eine Arztpraxis und einen Kinderspielplatz, das war alles. Wer mehr wollte, musste weit laufen oder fahren, um in den Ortskern der Kleinstadt zu kommen. Sicher hätten sie auch woanders etwas gefunden, aber es sollte schnell gehen. Das war kein normaler Umzug gewesen, sondern eine Flucht.
Warum haben wir uns vertreiben lassen? Weil wir keine Nerven mehr hatten für ihre Spielchen. Und nach dem Interview, da waren wir die Nestbeschmutzer. Gebracht hat dieses blöde Interview nichts. Es erschien in einer Zeitung, die hier im tiefsten Osten ganz sicher nur einen sehr kleinen Leserkreis hat. Leser, die in einer Blase leben.
Und dann der Artikel im Schaukasten des Bürgermeisteramts, wie sie davorstanden und aufgebracht diskutierten. Wir haben versagt. Da gibt es nichts, was man schönreden kann, der Traum vom Haus auf dem Land ist ausgeträumt.
Wann war das eigentlich losgegangen, dass sie alle aufs Land wollten, die Freunde in Berlin-Mitte? Als sie Kinder bekamen und ihnen plötzlich auffiel, wie laut und dreckig diese Stadt ist, von anderen Gefahren ganz abgesehen. Als sie Familien gründeten und sich ihr Leben völlig änderte.
Nun wollten sie plötzlich raus aus dieser Welt der grenzenlosen Freizügigkeit, der unendlichen kulturellen Möglichkeiten, weg vom Partyleben. Sie suchten auf einmal ihr inneres Kind und sehnten sich nach einer Zeit, in der die Uhren noch tickten, das Telefon eine Wählscheibe hatte und Oma für die Enkel Kirschsuppe mit Klieben kochte. Landlust, so hieß das neue Zauberwort.
Als die erste Familie es geschafft hatte, feierten sie Einweihung.
Laura erinnerte sich an die Gespräche der Frauen am Küchentisch. Plötzlich redeten alle von selbst gekochter Marmelade. Es schien, als würden alle Ängste, alle Sorgen, alle Reibereien unter ihnen, die sich in letzter Zeit gehäuft hatten, von einem endlosen Strom süßer, fruchtiger, klebriger Marmelade überdeckt werden. Von der fortschreitenden Gentrifizierung der Großstadtquartiere war an diesem Tisch keine Rede mehr und das Scheitern der Mietpreisbremse mutierte zur bedeutungslosen Randnotiz. Noch nicht einmal über Flüchtlingsströme diskutierten sie mehr. Die Männer taten es den Frauen gleich. Sie redeten über einen fachgerechten Baumschnitt und darüber, wo es eine ordentliche Heckenschere zu kaufen gab. Und dann begutachteten sie den alten Schuppen im Garten unter dem Aspekt einer nützlichen Verwendung. Met sollte hier gebraut werden, eventuell, das wäre doch was! Oder lieber Obstwein ansetzen?
Konrad jedenfalls war Feuer und Flamme, halbe Nächte verbrachte er am Laptop, um nach Immobilien zu suchen. Laura zögerte noch, ihr Leben verlief eigentlich in gut eingespielten Bahnen, vor allem wollte sie ihren Arbeitsplatz nicht aufgeben. Bis jener Sommerabend kam.
Eine weitere Familie aus ihrem Bekanntenkreis entschied sich für ein Leben auf dem Land.
In einem kleinen Dorf in der Uckermark hatten sie sich einen Resthof gekauft. Für Handwerker, so hieß es ironischerweise in der Anzeige. Die Familie hatte sich vorerst in der Ruine, wie sie das Haus mit seinen zahlreichen Nebengebäuden nannten, provisorisch eingerichtet. Sie luden die Freunde zu einem Grillfest ein.
»Das Dach ist jedenfalls dicht«, meinte der Hausherr, während er die Besucher über den Hof führte.
»Alles andere kommt so nach und nach. Wir haben Zeit!« Es hörte sich an, als würde er sagen: Jetzt sitzen wir hier, und wo wir sitzen, da bleiben wir.
Konrad nahm es neidvoll zur Kenntnis, obwohl er diesen Hof wirklich nicht haben wollte. Er trottete hinter den anderen her. Nun sollte es einen Schnaps geben, und zwar in der Scheune, »aus der man was machen könnte, mal sehen«.
Er horchte auf, als der Begriff »eigene Scholle« fiel, den kannte er vom Urvater. Auf die eigene Scholle tranken sie einen klaren Schnaps und noch einen und noch einen.
Als Laura in die Scheune kam, konnte Konrad nicht mehr gerade stehen, er saß im Heu. Laura war sauer, so kannte sie ihn nicht, er betrank sich nie. Sie hatten abgemacht, dass sie fahren sollte, sie hatte natürlich nichts getrunken, dennoch war sie wütend, als sie ihn so sah.
Gestützt von seinen Freunden stand er schwankend auf und torkelte, das Glas in der Hand, auf sie zu. »Prost, Schnecke, auf die eigene Scholle!«
»Wir fahren jetzt, Konrad! Halte deinen Kopf unter die Pumpe, damit du wieder nüchtern wirst, ich hole die Kinder!«
Die Männer johlten hinter ihr her. Alle waren sie betrunken und sie konnte sich nicht erinnern, auch nur einen von ihnen jemals in so einem Zustand erlebt zu haben.
Die Frauen saßen auf der Veranda und redeten über Hühnerhaltung. Laura informierte sie über das Gelage in der Scheune, sie nahmen es mit ihrer neuen ländlichen Gelassenheit auf. Die Frau des Hauses bot ihr an, doch einfach bei ihnen zu übernachten, Decken, Zahnbürsten und Handtücher hätten sie genug. Laura lehnte dankend ab, ihre Wut war noch nicht verraucht. Und wo waren eigentlich die Kinder?
Die Frauen schwärmten aus, fanden aber nur die Kinder der anderen Familien, die es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatten und Gummibärchen aßen. Ihren Bedarf an frischer Landluft hatten sie offensichtlich für heute gedeckt. Ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, murmelten sie was von draußen und Wiese. Laura rannte los.
Die Wiese, die früher eine Kuhweide gewesen war, auf der in Zukunft Schafe grasen sollten, lag am Rande eines weiten Tals. Das ganze Anwesen befand sich auf dem Hügel einer eiszeitlichen Endmoräne. Wer hier oben stand und herabschaute, der hatte den Überblick. Er schaute auf das Leben aus einer Perspektive herab, die ihm das Gefühl einer überschaubaren Welt vermittelte. Einer ländlichen, wohlgeordneten, heilen Welt.
Am Rande der Wiese stand eine Bank. Dort saßen Max und Ronja unter ihrer Kuscheldecke. Seltsam still saßen sie da. Schon wollte Laura sie rufen. Sie tat es nicht, sie schaute auf das, was ihre Kinder so still gemacht hatte. Am Horizont, direkt über den Wipfeln eines Waldes, sah sie die untergehende Sonne. Ihr warmes Glutrot tauchte die Landschaft in ein magisches goldenes Licht. Langsam, ganz langsam verging die Zeit.
Sie ging vorsichtig einen Schritt zur Seite, um in die Gesichter ihrer Kinder zu schauen. Max lief der Rotz aus der Nase, ab und an leckte er ihn mit der Zunge ab. Sein Blick aber war unentwegt auf den glutroten Ball gerichtet. Ronjas Gesicht wirkte in dieser warmen Lichtfülle noch blasser als sonst. Sie atmete tief und langsam.
Sie rührten sich nicht. Laura konnte sich nicht erinnern, ihre temperamentvollen Kinder jemals so still gesehen zu haben. Ihre Kinder, die abends regelmäßig hyperaktiv wurden und durch die Wohnung galoppierten wie eine Horde Affen, wilde Schreie ausstießen und dabei dieses und jenes Spielzeug ziellos griffen und wieder fallen ließen.
Ob das denn ginge, ob sie wirklich hier übernachten könnten, fragte sie in der Küche.
Konrad schlief in der Scheune in einem Schlafsack, sie und die Kinder unterm geheimnisvoll knarrenden Dachgebälk auf Luftmatratzen.
Bevor Max einschlief, versicherte sie ihm mehrmals, dass die Sonne am nächsten Tag wieder da sein würde und auch am übernächsten Tag, immer und ewig. Selbst wenn man sie nicht sähe, wäre sie da, hinter den Wolken versteckt, ganz bestimmt.
»Max ist ein Baby«, sagte Ronja. Sie drehte sich um und schon hörte Laura sie leise schnarchen. Sie konnte nicht fassen,