Odersumpf. Marina Scheske
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»Das musst du unbedingt lesen, es wird deine Welt verändern!«, rief er enthusiastisch. Er sprang von einem Thema zum anderen. Führte sich auf, als hätte er jahrelang im Knast gesessen und nun endlich die langersehnte Freiheit wiederentdeckt.
Was war passiert? Wo waren seine alten Eltern geblieben, die Eltern seiner Kindheit, deren Leben sich zwischen Wohnung, Arbeit, Kaufhalle und Kleingarten abgespielt hatte, wenn man von der Sommerreise an die Ostsee einmal absah?
Mutter mit Dauerwelle und Kittelschürze, sie bereitet das Abendbrot vor, Vater im Fernsehsessel, in der Hand das Lokalblatt. Im Fernsehen läuft das Sandmännchen. Mutter verkündet aus der Küche, sie hätte heute drei Gläser mit ungarischem Paprika in der Kaufhalle ergattert. Jeder Kunde bekomme aber nur drei Gläser, das sei ja auch gerecht, wo würden wir denn da hinkommen, wenn nur noch gehortet würde. »Ich bringe sie nachher in den Keller«, sagt der Vater, worauf sie ihm antwortet: »Du musst unsere Vorräte mal wälzen, hörst du!«
Nun legten die Eltern keine Essvorräte mehr an, sondern sammelten Bekanntschaften mit Menschen, Reiseeindrücke und Bücher. Vorbei waren die Zeiten, in denen sie Lebensmittel horteten und alles aufhoben. Bevor sie Friedrichsfeld verließen, hatten sie gründlich aussortiert. Ihre neue Wohnung in Köln erschien Konrad seltsam kahl.
»Wo ist eigentlich Urvaters Sessel?« Suchend schaute er sich um, als er das neue Wohnzimmer betrat.
»Aber der war doch schon so schäbig«, meinte die Mutter verlegen.
Der Sessel hatte seit Urvaters Tod in der Friedrichsfelder Wohnung neben dem Bücherregal gestanden, sein schlechter Zustand war diskret durch eine übergeworfene Decke verhüllt worden.
»Wir haben einen neuen Lesesessel gekauft. Setz dich mal rein, der ist superbequem, ergonomisch geformt!«
Konrad verzichtete darauf, obwohl seine Form dem Sessel des Urvaters nachempfunden war, was er unterschwellig als Betrug empfand, als eine werbewirksame Vorspiegelung falscher Tatsachen. Er murmelte nur: »Und wo ist das Büfett?«
Die Mutter tat so, als hätte sie es nicht gehört, und ihm war klar, dass sich diese Frage damit selbst beantwortete. Urvaters Büfett hatte schon in Friedrichsfeld jahrelang im Keller gestanden. Sicher war es auf dem Sperrmüll gelandet. Jahre später sah er ein ähnliches Teil bei einer Haushaltsauflösung in Berlin und Laura konnte ihn nur mit großer Mühe davon abhalten, es zu kaufen.
»Entweder das Büfett oder ich, Konrad!«
Über Geschmack ließ sich streiten. Dabei ging es ihm gar nicht um den geschnitzten Adler, der das altehrwürdige Teil krönte, es in seinen Krallen hielt und seine Schwingen schon zum Flug ausbreitete, um sich samt Schrank, Gläsern und Geschirr in die Lüfte zu erheben. Nein, es ging ihm nicht um diese gemütliche deutsche Geschmacklosigkeit aus Eiche, es ging um viel mehr, um Erinnerung, die man anfassen konnte.
Mit dem Büfett des Urvaters war für ihn eine ganze Welt verschwunden. Die Welt des ehrlichen Fleißes, die Welt der Sparsamkeit und Genügsamkeit, die Welt der Tugenden des Urvaters.
Wenn er zu Besuch nach Köln kam, machten die Eltern mit ihm Ausflüge, sie fuhren nach Straßburg, nach Luxemburg, an die Mosel und an den Mittelrhein. Dabei gebärdeten sie sich zu seinem Befremden, als wäre das ganze Leben ein Sonntagsspaziergang. Früher waren sie weniger euphorisch gewesen, sondern nüchtern und ernst.
Während dieser Ausflüge beobachtete er die Menschen, wie sie bei jedem Wetter vor den Cafés saßen, ständig lächelnd oder laut fröhlich lachend und scherzend, immer gut gelaunt, gepflegt und gut gekleidet. Wie sie sich aufmerksam miteinander unterhielten, sich ganz ihrem Gesprächspartner zuwandten und ihm ihre volle Konzentration schenkten, selbst wenn es nur um Banalitäten ging. Und meist ging es nur um Banalitäten, wie er feststellte, wenn er ihre Gespräche belauschte. Hätten an ihrer Stelle lauter Konrade gesessen, wäre das große Schweigen ausgebrochen. Er sah, wie sie sich mit einem Glas Wein in der Hand in Szene setzten und sich zuprosteten, als hätten sie gerade eine Heldentat vollbracht.
Er sah auch die Bettler, viele waren es nicht, aber sie waren unübersehbar. »Bettler gab es früher bei uns nicht«, sagte er zu seiner Mutter.
»Weil Bettelei verboten war«, antwortete sie gereizt.
Seine Eltern genossen ihr neues Leben und es schien ihm, als wollten sie nur die schönen Seiten davon sehen. Sie mutierten zu rheinischen Frohnaturen, wie ein Chamäleon hatten sie die Farbe gewechselt, sich angepasst. Sie waren Wessis geworden. Das hätte er noch verkraften können, sie lebten ja jetzt da drüben. Aber ihre Freude daran nahm er ihnen übel. Besonders bei seiner Mutter fiel ihm auf, dass sie schon nach wenigen Jahren den Dialekt der Region angenommen hatte. Mit ihm sprach sie zwar weiterhin in Friedrichsfelder Mundart, waren jedoch Einheimische dabei, dann kopierte sie deren Sprache. So glaubte Konrad es jedenfalls zu hören. Für ihn war es Verrat, ein Verrat an der Heimat. Verleugnete die Mutter damit nicht ihre Herkunft? War es denn nichts mehr wert, ein Brandenburger zu sein?
Zurück in Berlin kaufte er sich einen preußischen Wimpel.
Er stellte ihn auf seinen Schreibtisch. Dort lag die Bibel des Urvaters, in ihr befand sich noch immer der Stammbaum, in dem Konrad handschriftlich dessen Todesdatum eingetragen hatte.
Er wusste, dass er recht tat, wenn er das Andenken seines Urvaters in lebendiger Erinnerung behielt. Die Welt hatte sich verändert, aber hatte ihm der Urvater nicht ewig geltende Werte vermittelt? Er dachte daran zurück, wie er ihm mit feierlicher Stimme die Zehn Gebote aus dem Alten Testament vorgelesen hatte, die Moses auf einem Berg empfangen hatte. Handelte es sich dabei nicht um universelle ethische Grundsätze, nicht nur für das Christentum geltend, Grundsätze, die das Zusammenleben der Menschen überhaupt erst möglich machten? Eines Tages würde er sie seinen Kindern vorlesen.
Kinder. Spätestens dann musste ein neuer Stammbaum her, der alte bot keinen Platz mehr für Eintragungen. Es war nicht so, dass Konrad sich dem Neuen gegenüber verschloss, es floss unmerklich in ihn ein, jedoch maß er alles Neue am Wertekanon seines Urvaters.
Und dann waren da noch die materiellen Werte, die er ihm hinterlassen hatte. Er war Universalerbe, dreißigtausend Ostmark gingen nach vollendeter Enteignung auf das Konto seiner Eltern, von ihnen treu verwaltet bis zu seiner Volljährigkeit. Dort blieb es unangetastet auf einem Sparkonto bis zur Währungsunion. Bis auf einen Betrag von knapp fünftausend Mark, der eins zu eins umgetauscht wurde, war es nun nur noch die Hälfte wert. Ein Kollege riet ihm damals, in Aktien zu investieren. Natürlich tat er das nicht. Aktien waren Kapitalismus, ein Wort, das mit »mus« endete. Das Geld blieb auf der Sparkasse und warf magere Zinsen ab.
Schließlich kam die zweite Geldentwertung. Nun betrug sein Sparguthaben noch knapp über dreizehntausend Euro. Konrad kaufte sich davon ein gebrauchtes Auto.
In den folgenden Jahren verblasste das geistige Erbe des Urvaters, so wie auch der materielle Nachlass dahingeschwunden war. Weggespült vom Strom der täglichen Ereignisse, überlagert vom Geröll einer schnelllebigen Zeit verschwand es aus seinem wachen Bewusstsein. Erst viele Jahre später, als er Laura heiratete und die Kinder geboren wurden, tauchte es wieder auf. Er befand sich in einer anderen Lebenssituation. Nun galt es, Verantwortung für eine Familie zu übernehmen.
Was