Odersumpf. Marina Scheske
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»Warum soll ich schweigen, wenn ich reden muss? Ich lass mich nicht mundtot machen, ich nicht!«
»Und? Was hast du nun davon? Der Kerl von der Zeitung, der hat seine Story gehabt, der hat sich wieder in sein Auto gesetzt und ist abgedampft in den Westen. Wie schön, all diese arroganten Wessis konnten eine Woche später lesen, was in den ostdeutschen Provinzen so los ist. Zieht die Mauer wieder hoch, werden sie sagen, mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Aber weißt du, was sie vergessen? Vergessen und verdrängen? Dass in ihrem schönen Westdeutschland fast alle Nazis gut überlebt haben und in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wieder in einflussreichen Positionen saßen! Und dass sie die ganze braune Scheiße an ihre Kinder weitergereicht haben. Da hat auch der neue Aufbruch 1968 nicht viel gebracht. Das war nicht die Mehrheit, das kam nicht von unten aus der breiten Bevölkerung. Nein, das waren die Kinder des Bildungsbürgertums, die gegen ihre Eltern protestierten. Der braune Dreck blieb und jetzt importieren sie ihn in den Osten. Die Rattenfänger nutzen die Unzufriedenheit der Leute und die Strukturschwäche unserer Gegend aus. Du weißt, die DDR war nie mein Land. Aber eines steht fest, hier wurde der Faschismus konsequent bekämpft.«
»Von oben, Konrad! Der Antifaschismus wurde von oben verordnet.«
»Aber immerhin, das haben wir denen voraus. Bei uns gab es keine Nazirichter und Naziärzte, die einfach weitergemacht haben. Bei uns gab es keinen Herrn Globke, einen Nazi, der Regierungsberater wurde! Und jetzt tun sie so, als hätten wir die AfD erfunden. Es kotzt mich an. Dieses Land ist in mehrfacher Hinsicht zutiefst gespalten. Am liebsten würde ich auswandern, aber ich denke, ein Abenteuer reicht. Ich werde in zwei Jahren fünfzig.«
»Konrad, reg dich nicht so auf. Wir müssen langsam mal runterkommen und das alles vergessen. Denk einfach positiv, wir sind gesund, wir haben Arbeit, zu essen, zu trinken und ein Dach über dem Kopf. Alles wird gut. Nur den Garten, den werde ich vermissen. Den muss ich mir richtig aus dem Herzen reißen.«
»Wir können ja einen Kleingarten pachten, was hältst du davon? Hier werden immer welche angeboten, für ganz wenig Geld.«
*
Der Vollmond schien ins Zimmer und warf gespenstische Schatten an die Wände. Laura hatte in Ermangelung eines Vorhangs ein Laken vor das Fenster gehängt, dennoch hatte sie das weiß und silbern glänzende Licht nicht aussperren können.
Davon ließ sie sich nicht stören, sie schlief tief und traumlos. Konrad beneidete sie um diese Gabe, sie konnte immer und überall schlafen. Er wälzte sich oft schlaflos hin und her, stand auf, wanderte herum und war manchmal sogar ein kleines bisschen wütend auf die seelenruhig schlummernde Frau an seiner Seite. Vielleicht lag es an ihrem unterschiedlichen Temperament. Bei Laura musste alles immer gleich raus. Aufbrausend verschaffte sie sich Luft, wenn ihr etwas nicht passte, und trat dabei gern in alle Fettnäpfchen. Ins Bett nahm sie nichts mit. Konrad hingegen fraß tagsüber vieles in sich hinein. Es blieb in seiner Seele liegen wie ein Stein, den er nachts wälzen musste.
Doch nun, nach einem anstrengenden Tag, schlief auch er, ein paar Oktaven tiefer und gehörig lauter schnarchend als seine Frau.
Konrad hatte einen beunruhigenden Traum:
Er sieht sich im Garten seines Urgroßvaters. Er steht unter einem mächtigen, alten Nussbaum und er ist so alt wie seine Tochter Ronja. Er trägt eine blaue Latzhose, sie ist ihm zu kurz, er wächst zu schnell. Sein Haar ist fast weiß, ausgeblichen von der Sonne. Das ist ein Traum, denkt er, ich bin kein kleiner Junge mehr und der Garten meiner Kindheit ist nichts weiter als eine schöne Erinnerung.
Für einen kurzen Moment tauchte er auf aus den Tiefen seines Traumes und öffnete die Augen. Dann drehte er sich auf die andere Seite und träumte weiter:
Der Nussbaum. Konrad sieht die zahlreichen noch unreifen Früchte in grüner Schale, es wird eine große Ernte geben. Die Nüsse auf dem bunten Teller zu Weihnachten, dazu die Lebkuchen, mit Urvaters eigenem Honig werden sie gebacken, daneben liegen die rotbackigen Äpfel.
Plötzlich steht der Urvater vor ihm, taucht einfach so aus dem Nichts auf. Er trägt einen Imkerhut, der Schleier verhüllt sein Gesicht. Jetzt nimmt er den Hut ab und wischt sich mit einem rotkarierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Schweigend stehen sie sich gegenüber und Konrad fühlt, der Urvater möchte hören, was er ihm zu sagen hat. Er muss Rechenschaft ablegen, aber er bringt kein Wort über seine Lippen. Er ist doch tot, denkt er, er kann nicht hier sein. Es ist nur ein Bild, er ist gar nicht da.
Sein Urvater schaut nun in die entgegengesetzte Richtung und er folgt seinem Blick. Dort vorn an der Pforte, genau unter dem Spalier mit den blühenden Rosen, da steht der Graf. Er muss sich täuschen, das geht nicht, denkt Konrad, er ist in der falschen Zeit.
Der Graf trägt eine schwarze Zimmermannstracht. Die silbernen Knöpfe der Weste blitzen in der Sonne, das Hemd ist schneeweiß. Auch er sieht unwirklich aus, wie ein Bild.
Der Graf lächelt. Nein, das ist kein Lächeln, sondern ein zynisches Grinsen. Ein Grinsen, von dem Laura sagt, es würde ihr zeigen, wie gefährlich dieser Mann sei. Wie eingemeißelt wirkt es, dieses Grinsen, das die Überlegenheit des Stärkeren ausdrücken soll. Es ist die Überlegenheit einer Stärke, die er sich nicht selbst erworben hat, sondern zufällig durch Geburt besitzt, die er jedoch weidlich zum eigenen Wohle und zum Nachteil anderer Menschen ausnutzt.
Konrad sucht seinen Blick, er schaut direkt in seine dunklen, tiefstehenden Augen. Plötzlich weiß er, dass dieser Mann sich nicht in der falschen Zeit befindet. Er war schon immer da, immer und ewig, zu jeder Zeit, an jedem Ort.
Der Drang, dem Urvater mitzuteilen, wie gefährlich dieser Mann ist, steigt übermächtig in ihm auf und er bemüht sich um Worte. Alles will er ihm sagen. Was passiert ist im letzten Jahr und warum es passiert ist, was er wollte für seine Familie und weshalb er es nicht geschafft hat. Er muss Rechenschaft ablegen vor dem Urvater.
Urvater, so nennt er ihn, »Urgroßvater« ist zu lang für den kleinen Jungen, der sich schwertut mit der Sprache, dem die Zunge nicht gehorchen will.
Der Urvater dreht sich um und geht ins Haus, dann kommt er mit seinem alten Luftgewehr zurück und zielt auf den Grafen. Konrad schaut zu, wie der Kopf des Mannes von den Schultern fällt und über den Weg kullert, eine bizarre Szene. Urvater hat den Grafen ermordet! Wieder bemüht er sich, etwas zu sagen. Es fühlt sich an wie damals, als er vier war und seine Mutter mit ihm zu einem Logopäden gehen wollte. Aus lauter Angst vor diesem ominösen Mann rang er sich die Worte aus der Kehle und konnte plötzlich sprechen.
»Kein Land«, stößt er hervor, die anderen Worte sind nur ein dumpfer, unverständlicher Sprachbrei.
»Kein Land!«, ruft sein Urvater zurück. Oder war es ein Echo? Ein Schwarm Spatzen fliegt aufgeregt zwitschernd aus dem Holunderbusch neben ihm. Der Himmel dunkelt, alles flieht, der Garten ist fort und hat den Urvater mitgenommen.
Konrad saß aufrecht im Bett, sein Herz schlug wie ein Trommelfeuer.
Hellwach stand er am Fenster und presste die Stirn an die kühle Scheibe. Urvater, dachte er und wieder hörte er seine Stimme. »Kein Land«, rief sie, »kein Land für dich, Konrad. Du schaffst es nicht, der Graf ist stärker als du. Du bist zu weich. Dabei bist du doch ein Wieland, hast du das vergessen?«
»Leck mich, Urvater«, sagte er laut. Er schluchzte wie ein Kind. Ich habe versagt, dachte er, auf der ganzen Linie. Ich habe mich von diesem rechten Pack verjagen lassen. Es ist eine Schmach, so nennt man das doch, Schmach und Schande, nicht wahr, Urvater? Ich bin kein