Odersumpf. Marina Scheske

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Odersumpf - Marina Scheske

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der Großstadt? Sicher, auch das. Aber darüber hinaus trieb ihn etwas ganz anderes an. Er wünschte sich, dass seine Kinder so aufwachsen würden, wie er aufgewachsen war, in einem weitestgehend geschützten Raum, in einer überschaubaren Welt ohne schädliche Einflüsse, die er nicht verhindern konnte. War es das, was er wollte? Kontrolle über seine Kinder im Sinne eines patriarchalischen Familienbildes? War es ihm, wie den völkischen Siedlern, vor allem um Kontrolle und Macht gegangen?

      Das konnte und wollte er sich nicht eingestehen, denn dann hätte er sich mit ihnen auf eine Stufe gestellt. Dabei wusste er, genau dies ruhte auf dem Bodensatz seiner Seele und es kam vom Urvater. Nur, dass Kontrolle nun »informiert sein« hieß und Macht »Verantwortung übernehmen«. Er wusste genau, in einer Zeit, in der sich alte Rollenbilder auflösten, lag es an ihm selbst, inwieweit er davon Gebrauch machte.

      Was er in den letzten beiden Jahren erlebt hatte, war so überraschend und vollkommen absurd gewesen, dass er sich in dieser ersten Nacht nach dem Umzug wieder einmal die Frage stellte, wie so etwas in diesem Land überhaupt möglich war. Es erschütterte sein Weltbild und sein Rechtsempfinden in hohem Maße. War er naiv gewesen? Hatte er sich nicht genug informiert? Inzwischen hatte er sich belesen und Informationen erhalten, die man in keiner Tageszeitung und in keiner Nachrichtensendung fand. Wenn es wirklich stimmte, dass sie überall im Land Höfe in die Hand nahmen und versuchten, ganze Dorfgemeinschaften für ihre Ideologie zu vereinnahmen, dann war nicht nur er naiv gewesen, sondern ein ganzes Land. Schlimmer noch, die Politiker dieses Landes, von den Kommunen bis zum Bundestag, die Justiz und der Verfassungsschutz, alle hatten weggeschaut und dieses Treiben stillschweigend geduldet.

      Als Konrad diese Erkenntnis erreichte, stand das Rad seiner Gedanken endlich still. Er fühlte sich erleichtert, weil es hier um eine Kollektivschuld ging. Fast alle verschlossen die Augen vor dem, was da vor sich ging. Und auch er ging gern Kompromisse ein um des lieben Friedens willen. War dieses Raushalten nicht auch ein Relikt aus der DDR-Zeit?

      Wir sind, wie wir sind, dachte er. Das Leben hat uns so geformt. Was können wir schon ausrichten, wir kleinen Leute? Wir müssen zusehen, wie wir klarkommen.

      Das war sein letzter Gedanke, bevor er endlich einschlief. Dieser Gedanke war eine Generalamnestie für all seine Landsleute, die wegschauten, weil sie in Frieden leben wollten. Ganz so, wie es auch ihre Urväter getan hatten, als in Deutschland die Synagogen brannten.

      *

      Am nächsten Morgen lag ein Zettel auf dem Tisch. »Bin Brötchen holen.«

      Er wartete lange auf Laura. Mit seinem Kaffee stand er am Fenster und beobachtete den kleinen Parkplatz. Er schätzte ab, ob er dort abends noch einen Platz finden würde, bis ihm einfiel, dass er ja nun zu Fuß zur Arbeit gehen konnte.

      Als sie endlich kam, goss sie sich schweigend Kaffee ein und stellte sich zu ihm ans Fenster. »Holger Grams ist tot. Er hat sich erhängt.«

      »Woher weißt du das? Mein Gott, Laura, wie siehst du denn aus? Setz dich doch erst mal hin!«

      »Ich muss was essen«, murmelte sie. Hastig schnitt sie sich ein Brötchen auf, Konrad schaute ihr zu. Er sah, wie sie sich in die Hand schnitt und das Blut tropfte. Tränen liefen über ihr Gesicht.

      »Nun mach doch was!«, rief sie.

      Es war nicht so schlimm, wie es ausgesehen hatte. Konrad verband ihre Wunde, nahm sie in den Arm und wiegte sie wie ein Kind. »Laura, Schnecke, es ist nur ein kleiner Ritz.«

      »Er hat hier gewohnt!«, stieß sie schließlich hervor. »Keiner in Creywitz wusste, dass er hierhergezogen ist. Direkt aus der Klinik. Oder wusstest du das etwa?«

      »Woher denn? Sicher wusste es der eine oder andere, aber sie sprachen nicht mehr über Holger. Was da passiert ist, hat ein schlechtes Licht auf ihren schönen Ort geworfen.«

      Er erinnerte sich an Holgers Worte, als er ihn in der Klinik besucht hatte: »Ich muss weg aus Creywitz! Ich kann nicht mehr, Konrad. Ich kann die ganzen Hackfressen nicht mehr sehen! Dieser Graf hat Kathi auf dem Gewissen, aber ich kann es nicht beweisen! Die von der Kripo, die denken, ich bin bekloppt. Ich werde wegziehen, der Hof wird verkauft, mein Bruder erledigt alles für mich. Und dann werde ich einen Detektiv beauftragen. Dieser Lump hat sie bestimmt irgendwo verscharrt!«

      »Zu mir hat er mal gesagt, er zieht vielleicht zu seinem Bruder nach Jahnswalde. Hörst du mir überhaupt zu, Konrad? Dabei ist er nach Friedrichsfeld gezogen. Hier hat er gewohnt, hier in diesem Haus! Ausgerechnet in der Selbstmörderburg. Er hat sich an der Heizung erhängt, stell dir das mal vor! Ich halte das nicht aus, das verfolgt uns, Konrad.«

      »Woher weißt du das?«

      »Ich war beim Bäcker. Und Kathi wird immer noch vermisst. Meinst du, der Graf hat sie umgebracht? Inzwischen traue ich es ihm zu.«

      »Nie im Leben! Ich denke, sie ist untergetaucht, geflohen vor Graf. Klar, er ist vielleicht ein Psychopath, aber ein Mörder? Nee, da steht für ihn zu viel auf dem Spiel. Er hat doch einen Ruf zu verlieren. Es geht um ihre Sache, Laura, und diese Sache ist ihnen heilig.«

      »Aber wenn sie wirklich untergetaucht ist, warum hat sie ihrem Vater nichts gesagt? Ich meine, sie hätte ihm ja nicht sagen müssen, wohin, aber wenigstens, dass sie weggeht, damit er sich keine Sorgen macht. Stell dir vor, deine Tochter würde einfach so verschwinden!«

      »Sie hatten kaum noch Kontakt.«

      »Vielleicht ist sie ja wirklich regelrecht geflohen und wollte sich später bei ihm melden. Aber später war zu spät. Ach, Scheiße! Jetzt sitzt sie irgendwo und weiß nicht, dass ihr Vater tot ist!«

      Laura schluchzte laut auf. »Ich kann nicht mehr, Konrad. Warum ist er ausgerechnet hierhergezogen? Wusste er, dass wir auch hierherziehen wollen?«

      »Ich glaube nicht. Ich hatte ihn ja lange nicht gesehen.«

      »Gestritten habt ihr euch! Und dann warst du ewig nachtragend. Ich mache mir große Vorwürfe, wir hätten uns mehr um ihn kümmern müssen.«

      »Laura, beruhige dich doch. Wir hatten genug mit uns selbst zu tun. Was immer geschehen ist, uns trifft keine Schuld. Es tut mir leid, dass Holger tot ist. Es tut mir sehr leid! All das tut mir sehr leid, aber ich kann nichts dafür und ich kann es nicht ändern. Wir gehen natürlich zu seiner Beerdigung. Aber wir wollen hier neu anfangen! Jetzt muss ich die Betten der Kinder aufbauen.«

      Laura stand am Waschbecken und ließ das kalte Wasser über ihre Handgelenke laufen.

      Ihre Gedanken weilten in der Vergangenheit. Sie sah, wie sie aus dem Haus rannte und vergeblich nach Max Ausschau hielt. Plötzlich stand er vor ihr.

      »Feuerwehr! Mama, die Feuerwehr ist da. Holger, ganz viel Blut. Der große Hund! Holger kommt ins Krankenhaus!« – »Max! Ich habe mir solche Sorgen gemacht, du warst einfach weg!« – »Mach dir keine Sorgen, Mama, die Feuerwehr ist da.« – »Oh Gott, was ist passiert?«

      Max war der einzige Zeuge gewesen. Was hatte er gesehen und wie tief waren die Spuren, die dieses grausame Geschehen in seiner Seele hinterlassen hatte? Später erfuhren sie, dass ein zufällig vorbeikommender Mann, der am See angeln wollte, den schwer verletzten Holger kurz vor dem Vorwerk gefunden hatte.

      Laura ließ keine beschwichtigenden Rechtfertigungen gelten. Wenn etwas schiefgelaufen war, dann haderte sie vor allem mit sich selbst. Sie warf sich vor, sich nicht genug um Holger gekümmert zu haben. Während Konrad nebenan seelenruhig die Betten der Kinder aufbaute und dabei leise eine Melodie pfiff, stand sie in

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