Zivilisation in der Sackgasse. Franz M. Wuketits
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Franz M. Wuketits
Wien, im November 2012
EINLEITUNG: WOZU DIESES BUCH?
Der Mensch ist aus seiner gewohnten Welt hinausgeworfen in eine fremdartige Umgebung.
Das selbstverständliche Vertrautheitsgefühl mit den umgebenden Menschen und Dingen ist verloren gegangen.
Otto Friedrich Bollnow
Es steht wohl außer Frage, dass Menschen so gut wie in jeder Epoche der Geschichte an ihrer Zeit etwas auszusetzen hatten, mit ihren Lebensumständen unzufrieden waren und sich eine „bessere Welt“ wünschten. Jedes Zeitalter hat seine Mahner und Warner, seine Kritiker und Spötter.
In seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen, entstanden in den Jahren zwischen 1873 und 1876, schrieb Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) Folgendes:
Und nun schnell ein Blick auf unsere Zeit! Wir erschrecken, wir fliehen zurück: wohin ist alle Klarheit, alle Natürlichkeit und Reinheit jener Beziehung von Leben und Historie, wie verwirrt, wie übertrieben, wie unruhig flutet jetzt dies Problem vor unsern Augen! Liegt die Schuld an uns, den Betrachtenden? Oder hat sich wirklich die Konstellation von Leben und Historie verändert, dadurch, dass ein mächtig feindseliges Gestirn zwischen sie getreten ist?
(Nietzsche 1983, S. 43)
Was die heutige Zeit betrifft, würde wohl mancher diese Zeilen nahezu unverändert übernehmen. Allerdings glaubt vermutlich kaum jemand, dass ein „feindseliges Gestirn“ zwischen unsere Gegenwart und Vergangenheit getreten sei. (Freilich gebrauchte auch Nietzsche dabei bloß eine Metapher.)
In der heutigen Zeit – ich meine damit die letzten paar Jahrzehnte – können wir allerdings Phänomene beobachten, für die es in der ganzen Menschheitsgeschichte keine Präzedenzfälle gibt. Der Verlust der historischen Kontinuität ist eines dieser Phänomene. In keiner Epoche war man auf Reformen und Innovationen so versessen wie jetzt. Alles muss verändert, umgebaut, modernisiert, erneuert werden. Ob es sich dabei um das Bildungssystem oder das Postwesen handelt, um Bahnhöfe oder Flughäfen, um Einkaufszentren oder Freizeitanlagen, um Dörfer und Städte – im Abstrakten wie im Konkreten soll möglichst kein Stein auf dem anderen bleiben. Wie Thomas Bernhard (1931 bis 1989) in seinem Stück Heldenplatz den Professor Schuster sagen lässt:
… überall wird alles vernichtet überall wird die Natur vernichtet die Natur und die Architektur alles Bald wird alles vernichtet sein die ganze Welt wird bald nicht mehr wiederzuerkennen sein
(Bernhard 1988, S. 85)
Ja, alles soll in neue Formen gegossen und, wie es so schön heißt, den heutigen Bedürfnissen angepasst werden.
Die „heutigen Bedürfnisse“ sind eine bloße Konstruktion, erfunden von unseren Planern und Machern, die damit ihren eigenen Innovationswahnsinn legitimieren wollen. Das gelingt ganz gut, weil die meisten Menschen diesen Wahnsinn mitmachen und – betäubt von einer dubiosen Fortschrittsideologie – gar nicht wahrnehmen (und nicht wahrnehmen sollen!), dass jene Bedürfnisse nicht ihre eigenen sind.
Das zweite Phänomen ist ein nie dagewesener Größenwahn: Eisenbahnzüge sollen immer schneller, Flugzeuge immer größer, Straßen immer breiter und Bauwerke immer höher werden. Niemand will an Grenzen, die Begrenztheit des Menschenmöglichen denken, alles scheint machbar. Wem aber die Superlative letztlich nutzen sollen, weiß keiner so recht. Auch lässt sich nicht schlüssig begründen, warum alles mit stets höherer Geschwindigkeit erledigt werden und alles kürzer dauern soll.
Damit sind wir beim dritten Phänomen: der Beschleunigung. Der Ausspruch „Alles zu seiner Zeit“ hat heute keine Gültigkeit mehr, weil sich niemand Zeit lassen, Zeit nehmen darf. Der Münchener Philosoph und Pädagoge Karlheinz Geißler, der viel Zeit in dieses Problem investiert hat, spricht treffend von einem „Tempodrom“. Er schreibt Folgendes:
Ungeduld, Unruhe, nervöse Erregung und Gereiztheit wachsen überall dort, wo nicht schnell genug informiert, wo zu langsam gegessen und zu zögerlich verstanden und reagiert wird. Redet ein Gesprächspartner zu langsam, setzt man ihn unter Zeitdruck und vervollständigt die von ihm begonnenen Sätze gleich selbst. Langsamesser, Genießer müssen mit vorwurfsvollen Blicken rechnen und es über sich ergehen lassen, in immer kürzer werdenden Abständen von der Bedienung mit forderndem Unterton gefragt zu werden, ob es ihnen denn wirklich auch schmeckt. Eltern beschimpfen ihre Kinder, die das Lernpensum nicht schnell genug absolvieren, und ermahnen sie, doch nicht ständig so „rumzutrödeln“.
(Geißler 2012, S. 8)
In diesem Tempodrom finden Ruhe und Wohlbefinden keinen Platz. Aber man spricht ja heutzutage auch weniger von Wohlbefinden als von Wellness, das – in Verbindung mit Fitness – schon auf der sprachlichen Ebene jenen Ungeist charakterisiert, dem wir überall begegnen und der uns auf Schritt und Tritt gefährlich überwölbt. Ein kleines Beispiel. Das Kaffeehaus (als Österreicher weiß ich, wovon ich rede) ist ein Ort, der zum Verweilen, zum Lesen, zum Austausch mit Gleichgesinnten und Andersdenkenden einlädt. Jene Lokale aber, die sich Coffee to go nennen (und in unseren Städten neuerdings wie Pilze aus dem Boden sprießen und das gute alte Kaffeehaus mancherorts schon verdrängen), sind das genaue Gegenteil, Symptom eines Zeitalters, das niemandem mehr Muße gönnt. Coffee to go bedeutet ja letztlich doch nichts anderes als „Nimm den Kaffee und verschwinde (nachdem du ihn bezahlt hast)!“
Und noch ein viertes Phänomen ist hier zu nennen: die Regulierungswut. Wo man auch hinschaut, erblickt man heute Verbotsschilder und Warnhinweise, Aufforderungen zum Gehen und Stehen, zum Anstellen und Vortreten … Jedes kleinste Detail unseres Alltagslebens muss in den Augen des Gesetzgebers geregelt werden, vermeintlich im Interesse unserer eigenen Sicherheit und Gesundheit. In Wahrheit geht es freilich um nichts anderes als die Entmündigung des Individuums. Dieses Bestreben ist nicht neu, nimmt aber heute bizarre Dimensionen an, weil die entsprechende Technologie (beispielsweise in Form von Überwachungskameras) verfügbar ist und ständig verbessert beziehungsweise ausgeweitet wird.
Nimmt man diese vier Phänomene zusammen – und wir werden in diesem Buch noch auf weitere eingehen –, erhält man das Spiegelbild einer Zivilisation, die sich auf Kosten des Einzelnen entfaltet, und das mit Riesenschritten. Es ist eine Zivilisation, die den Bedürfnissen des Individuums nicht mehr gerecht wird. Selbstverständlich wurde das Individuum zu allen Zeiten von den jeweils Herrschenden unterdrückt. Aber man sollte meinen, dass zweihundert Jahre nach der Aufklärung und über sechzig Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte der einzelne Mensch tatsächlich mehr zählt als etwa im Mittelalter. Das aber ist mitnichten der Fall. Bloß die „Vorzeichen“ haben sich geändert. An die Stelle der einst allein selig machenden