Geist & Leben 3/2018. Verlag Echter
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Es folgt die Aufforderung Jesu an den Mann mit der verdorrten Hand: „Steh auf und stell dich in die Mitte!“ Damit wird der Blick aller Anwesenden auf den leidenden Menschen gerichtet. Es folgt die Frage Jesu nach der richtigen Priorität zwischen Empathie und Regelkonformität. Sie verhallt unbeantwortet: „Sie aber schwiegen.“ Und dann: „Und er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz.“ Die Trauer gesellt sich zum Zorn. Warum? Ich meine: wegen des Schweigens. Jesus gerät an eine Grenze, die er nicht überwinden kann. Das steinerne Schweigen richtet sich gegen ihn. Es macht ohnmächtig. Es geht in diesem stummen Kampf der Blicke nicht um Lappalien. Das zeigt der letzte Satz der Perikope: „Da (…) fassten [sie] zusammen (…) den Beschluss, Jesus umzubringen.“
Der Zorn hat also – idealtypisch gesprochen – neben der Empathie mit Leiden (= Empathie-Zorn) eine zweite Quelle: Zorn aus einer Ohnmachtserfahrung heraus (= Ohnmachts-Zorn). Ohnmachts-Zorn kann sich zu Hass steigern, wenn die Ohnmachtssituation nicht konstruktiv bewältigt wird. Hass ist altgewordener Ohnmachts-Zorn (Cicero: ira inveterata), ein Dauerzustand in der menschlichen Seele, mal unter der Asche glimmend, mal plötzlich und unberechenbar auflodernd, im allerschlimmsten Fall kalt und heiß zugleich, planend, racheschmiedend, ideologisch überhöht. Theologisch projiziert, verengt Hass den Blick auf einen „Gott“ hin, dem angeblich nichts wichtiger ist als den/die Sünder(in) zu bestrafen, um vom eigenen Ohnmachts-Zorn herunterzukommen. Ohnmachts-Zorn überlagert Empathie-Zorn: Die Fähigkeit zur Empathie geht verloren. Die andere Person, die andere Gruppe, die andere Nation, die andere Konfession verliert ihren Anspruch auf Empathie. So kann man dann im Namen angeblicher Gerechtigkeit, im Namen der eigenen Nation oder Konfessionen schrecklichste Gräueltaten vollbringen, dabei vollkommen kalt bleiben und „Gott“ in seinem Rücken wähnen.
Wer unter der Wucht von Ohnmachts-Zorn leidet, steht in der Versuchung zur Verhärtung und zur Gewalt. Hierhin gehört die Warnung des Psalmes: „Erschreckt und sündigt nicht!“ (Ps 4,5) Doch die Warnung allein hilft der zornig-traurigen Person nicht. Wer unter Ohnmachts-Zorn leidet, bedarf auch der Empathie. Einfühlung, Begleitung und guter Rat sind nötig, um konstruktive Wege aus den Ohnmachtsgefühlen und auch aus der Ohnmachtsituation zu finden. Auch ein allgemeines Gewaltverbot allein reicht nicht, zumal wenn es aus den unbeteiligten Höhen des Besserwissens kommt. Das Evangelium kennt Szenen, in denen mit der Nähe zur Ohnmachtssituation die Versuchung zur Gewalt nicht nur ganz nahe herankommt, sondern auch ganz nahe herangelassen wird. Jesus fordert seine Jünger auf, sich Schwerter zu besorgen (vgl. Lk 22,36). Irgendwoher mussten „seine Begleiter“ ja Schwerter gehabt haben, als einer von ihnen am Ölberg dem Diener des Hohepriesters ein Ohr abschlug (vgl. Lk 22,49 f.).
II.
In der Synagoge von Kafarnaum wird steinernes Schweigen hörbar: „Sie aber schwiegen.“ Hinter der Schweigemauer bereiten sich Mordpläne vor. Wie kommt es zu diesem Zorn hinter der Mauer, zum gesenkten Blick, der die nackte Wut verbirgt? Empathie-Zorn spielt dabei keine Rolle, zumal die „Pharisäer und Schriftgelehrten“ ohnehin keine Empathie mit dem Leiden des Mannes am Eingang der Synagoge zeigen. Ohnmachts-Zorn ist eher das Problem Jesu, der mit dem Kopf vor die steinerne Wand des Schweigens stößt. Ich denke, die stumme Wut kommt aus dem eigenen Kränkungsschmerz. Der Schmerz der Aufpasser besteht darin, dass Jesus ihre Position der Aufpasser nicht respektiert, ihre Prioritätensetzung zugunsten der Regelfrömmigkeit konfrontiert und damit auch einen eigenen Machtanspruch stellt, der sie zu entthronen droht. Das tut weh, denn es stellt das Selbstverständnis der so „Bedrohten“ in Frage.
Der Zorn auf Jesus gründet also in narzisstischen Interessen, an denen gerüttelt wird. Ich nenne ihn deswegen Ego-Zorn. In ihm vollzieht sich die Verwechslung eigenen Kränkungsschmerzes mit dem Leid von Gewaltopfern. Jesus übt zwar keineswegs Gewalt gegen die Aufpasser aus, wenn er sie in der Synagoge mit ihrer Denkungsart konfrontiert. Doch sie erleben die Herausforderung als Gewalt, weil sie ihnen weh tut – und sehen sich deswegen als Opfer. Aber nicht alles, was weh tut, ist schon Gewalt. Dass gilt auch für die Rede von Gott: Wer vom Himmel nur Bestätigung und Verstärkung im Echo-Raum der eigenen Meinungen und Selbsteinschätzung erwartet, wird enttäuscht.
Ego-Zorn ist besonders trennscharf von Empathie-Zorn zu unterscheiden, weil Ego-Zorn anscheinend Empathie-Zorn ähnelt. Aus der narzisstischen Perspektive geht es beim Ego-Zorn zwar auch irgendwie um Empathie, allerdings primär um Empathie mit dem eigenen Schmerz, mit der eigenen Person – um Selbstmitleid. Der eigene Schmerz hat im Fall der Fälle Priorität vor allen anderen Schmerzen, weil die eigene Person sich selbst gegenüber anderen Personen als vorrangig definiert. Machtpositionen können leicht zentraler Inhalt des eigenen Selbstverständnisses werden. Die gehobene Position wird mit einem Bedeutungsgefälle zwischen der eigenen Person und anderen, untergeordneten Personen verwechselt; die Verwechslung schleicht sich in das eigene Selbstverständnis ein und führt zur „Selbsterhöhung“ (vgl. Lk 18,14). In dieser Konstellation kann dann schon das Ausbleiben einer Huldigung, die Unterlassung eines Bücklings Ego-Zorn hervorrufen. Narzissten sind äußerst schmerzempfindlich.
Religiös wiederholt sich dieses Verhältnis, wenn Gott vorgestellt wird als Instanz, die Unterwerfung verlangt und im Vollgefühl von Ego-Zorn zuschlägt, wenn die Unterwerfung ausbleibt. Einsicht, Gespräch und überhaupt alles, was ein würdiges, liebevolles und einfühlsames Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf ausmacht, hat in dieser Konstellation keinen Raum. „Gott“ ist die Verkörperung einer blinden Zornesmacht. Das Wichtigste, worauf das Geschöpf zu achten hat, ist, den Gotteszorn nicht durch Unterlassungen und Unvorsichtigkeiten aller Art zu provozieren. Das ist das Wesen der Angst-Religion.
III.
Ich kann nachvollziehen, wenn Menschen, die an den sektiererischen Auswüchsen von Ego-Zorn gelitten oder in den geistlichen Fallen von Ohnmachts-Zorn mitgefangen wurden, die Rede vom „Zorn Gottes“ verabschieden – und dies umso mehr, wenn Leiden und Scheitern am „Zorn Gottes“ ganze religiöse Systeme und Kulturen geprägt und die gesamte Gottesrede vergiftet haben. Ich glaube aber, dass das Problem mit dem „Zorn Gottes“ damit nicht gelöst ist, und zwar deswegen, weil es den Empathie-Zorn gibt, ohne den ich mir auch Liebe nicht vorstellen will. Mein Weg aus dieser Schwierigkeit verläuft nicht über theologische Spekulationen, sondern über die „Unterscheidung der Geister“, also die Schulung einer Herzensklugheit, die Zornesgefühle zulässt und sich um Kriterien ihrer Deutung bemüht.
Eine Systematisierung der Unterscheidung von Zorn im Sinne der ignatianischen Regeln könnte folgendermaßen aussehen: Zornesgefühle sind „innere Bewegungen“ (motus). Diese „Bewegungen“ oder auch „Geister“ (spiritus) kommen entweder von Gott oder vom „bösen Feind der menschlichen Seele“. Um den Ursprung der Bewegung zu erkennen, empfiehlt es sich, „Anfang, Mitte und Ende“ einer Bewegung betrachten: „Wenn der Anfang, die Mitte und das Ende gut sind, dann ist dies ein Zeichen des guten Engels.“ (GÜ 333) Es kommt auf die Richtung der inneren Bewegung an, um zu sehen, wes Geistes Kind sie ist.
Empathie-Zorn zielt auf größeres Begreifen von Leiden anderer und auch auf Engagement für sie hin. Deswegen darf er grundsätzlich positiv bewertet werden. Ohnmachts-Zorn hingegen ist ambivalent. Hier ist gesteigerte Aufmerksamkeit gefragt, denn zur Empathie kommt die Erfahrung der Ohnmacht hinzu. Die Trauer gibt dem Ohnmachts-Zorn eine gute Richtung, sofern und weil sie der zornigen Person das Thema stellt, um das es beim Ohnmachtsgefühl geht: Die Erfahrung und konstruktive Auseinandersetzung mit der eigenen Grenze. Ohnmachts-Zorn ist die Gelegenheit, eine Grenze zu erkennen und zu akzeptieren, durchaus im Sinne des Reinhold Niebuhr zugeschriebenen Gebetes: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann; den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann; und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ (Gotteslob 9,2)
Mit der Akzeptanz der Grenzen eigener Gestaltungsmacht werden mögliche Allmacht-Phantasien